Vorwort - Teil 2

 

Eine gewisse Abenteuerlust muss auch in mir gesteckt haben. Wie sonst ist zu erklären, dass ich ohne zu zögern mit Mann und inzwischen zwei Kindern ( meine zweite Tochter war knapp 9 Monate alt, als wir in Genua auf das Schiff gingen, das uns 4 Wochen lang über das große Wasser tragen sollte) in ein Land übersiedelten, in dem die politischen Turbulenzen immer größer wurden. Egal – wir waren nun schon vertraglich gebunden und schauten voller Erwartung nach vorne. Jeder Tag war aufregend, die Schiffsreise war herrlich. Die zurückliegenden Monate waren so angefüllt gewesen; es ist nicht einfach, eine mindestens dreijährige Abwesenheit zu organisieren, wenn man ein Haus zu vermieten hat, entscheiden muss, was auf Vorrat eingekauft werden muss, welche Möbel, Geschirr etc. mitgenommen werden sollen, was bei der Spedition eingelagert bleibt etc. Unser „großes Gepäck“ kam schon frühzeitig in einen Container, der per Frachtschiff nach Chile fuhr, und wir mussten zwei Monate aus 8 Koffern leben – Winterkleidung für Deutschland, Sommerkleidung für Chile. Da blieb keine Zeit für banges Nachdenken. Die bekümmerten Mienen meiner Mutter und meines Schwiegervaters nahmen wir gar nicht wahr. Wir waren eben jung.

 

Aus den ursprünglich drei Jahren wurden dann fünf. Wir erlebten ein halbes Jahr lang das Ende des chilenischen Sozialismus, und zwar hautnah. Dann kamen viereinhalb Jahre Militärdiktatur – ebenfalls hautnah.

Ich musste lernen, zu improvisieren, auf dem Schwarzmarkt zu feilschen, zu schmuggeln, Lebensmittel für meine Familie herbeizuschaffen, nötigenfalls blitzschnell Ausreden zu erfinden und ja auch noch zu unterrichten – und das alles in einer Sprache, die ich nicht beherrschte. Unter solchen Umständen lernt man schnell.

Merkwürdigerweise hatte ich mit der von unserer so unterschiedlichen Mentalität überhaupt keine Schwierigkeiten. Ich akzeptierte sie so, wie sie war, und konnte deshalb relativ mühelos in eine fremde Welt, Kultur und Sprache eintauchen und sie mir zu Eigen machen.

Jung, wie ich war, hatten all diese vielfältigen Erlebnisse und Erfahrungen große Auswirkungen auf meine charakterliche Entwicklung. Ich veränderte mich. Das wäre sicherlich auch geschehen, wenn ich in Deutschland geblieben wäre, hätte mich aber sicher auf ganz andere Wege geführt.

Diese fünf Jahre in Chile haben mich und mein Leben, auch mein berufliches Fortkommen, entscheidend geprägt. Ich habe in dieser Zeit so viel gelernt über Menschen und unterschiedliche Denkweisen, die sich häufig in anekdotenhaften Erlebnissen niederschlugen, so viel gesehen auf den Urlaubsreisen.

Die Zustände der so lange herrschenden Militärdiktatur zwangen uns, auch die andere, dunkle Seite des Landes wahrzunehmen. Wir haben getan, was in unseren Kräften stand. Eine Gruppe deutscher Lehrer engagierte sich stark für die schwächsten Glieder der Gesellschaft, die Kinder. Mit Spenden aus Deutschland und eigenem Engagement wurden Stätten gebaut, die Kindern eine warme Mahlzeit pro Tag und ein zweimaliges Einkleiden pro Jahr garantierten. Solche Erfahrungen gehen nicht spurlos an einem vorüber. Und so wurde ich erwachsen, wenn man „erwachsen“ im Sinne von Bewusstwerdung sieht.

Und ich wusste sehr wohl, dass meine Zeit in Südamerika einen Ausnahmezustand darstellte und mein Aufenthalt dort zeitlich begrenzt war, brauchte mich aber trotzdem nicht als Touristin zu fühlen. Ich fühlte mich dem Land tief verbunden, habe es nie bereut, fünf Jahre in aufregenden Zeiten am anderen Ende der Welt zu leben und zu lernen, dass es sehr wohl eine andere Art zu leben gibt, als die deutsche.

Ich würde es heute noch einmal genauso machen.

(. . . weniger)