Frölich & Kaufmann

 

Nein, das sind nicht die Namen der beiden noch sehr jungen Herren – höchstens 18, schätze ich mal – die dort vor sorgfältig arrangierter Kulisse und im bestimmt geliehenen Outfit beim Fotografen posieren. Bei Frölich & Kaufmann handelt es sich um einen Berliner Verlag, dessen Schwerpunkt auf Kunst und Archäologie liegt. Das Foto ziert die Rückseite eines Kataloges des Verlages – das ist aber schon etliche Jahre her.

 

Der junge Mann links auf dem Bild ist mir völlig unbekannt. Er scheint aber ein Freund des anderen zu sein, der zu der Zeit das Lehrerseminar in Bederkesa, Niedersachsen, besuchte, und ist wahrscheinlich auch ein Lehramtskandidat.

Der junge Mann mit den dunklen Augen und sinnlichen Lippen hieß Wilhelm Ebel und stammte aus Bienenbüttel in der Lüneburger Heide, wo er als Sohn eines Bahnhofwärters in ärmlichsten Verhältnissen aufwuchs. Sein Vater – Heinrich Ebel – war ein uneheliches Kind und hat wohl nie eine Chance auf so etwas wie höhere Bildung gehabt. Seine Mutter war Magd auf einem Bauernhof gewesen und war vom Dienstherrn geschwängert worden. Heinrich saß in der Schule direkt neben dem ehelichen Sohne des Bauern. Sie sollen sich wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich gesehen haben.

Heinrich heiratete ziemlich früh, denn sein Sohn Wilhelm kam 1884 auf die Welt, da war der Vater 24 Jahre alt. Nach ihm kam eine Schwester, die aber schon als Kleinkind starb.

Und so ging er zur Schule, und dem Lehrer fiel die Begabung des Jungen auf. Wilhelm lernte schnell und leicht und besaß eine Art von trockenem Humor, die zu der Zeit in dieser Gesellschaftsschicht sicher unüblich gewesen ist.

Der Pastor des Ortes nahm sich seiner an und entschied: Der Junge soll eine bessere Zukunft haben als sie seinem Vater beschieden gewesen war. Er rief die Gemeinde zu Spenden auf, um Wilhelm auf die „Präparande“ zu schicken, also auf eine Schule, die als Abschluss eine Art Abitur bot, welches zum Studium auf dem „Seminar“ berechtigte. Hier wurden Volksschullehrer ausgebildet. Ich möchte zu gerne glauben, dass der Großbauer, sein Großvater, dieses Stipendium kräftig unterstützt hat. Das ist aber wahrscheinlich nur eine sentimentale Annahme.

 

Das Foto wird während seiner Seminarzeit aufgenommen worden sein und hat bestimmt im Wohnzimmer der Eltern einen Ehrenplatz gehabt. Wilhelm, das einzige Kind – ein Lehrer! Sein Vater wird es unaufgeregt zur Kenntnis genommen haben. Er soll ein freundlicher und ruhiger Mann gewesen sein. Ich erinnere mich gut an seinen Grabstein: Heinrich Ebel 1860 – 1940.

 

Wenn ich Wilhelm mit einem Wort charakterisieren soll, dann fällt mir spontan „arglos“ ein. Und arglos blieb er sein Leben lang, praktisch bedürfnislos, voller Humor und ein nie versiegender Quell von Märchen und Geschichten. Er liebte seine Schüler, und alle Kinder liebten ihn. Sie machten Gedichte, die seine ausgesprochen lange Nase zum Gegenstand hatten, und er schmunzelte nur darüber. Oft saß er in seiner Gartenlaube, umringt von einem Kreis andächtiger Zuhörer, die den Märchen lauschten, die er erzählte – ziemlich unorthodox, übrigens. Als Hänsel und Gretel sich von der bösen Hexe befreit hatten, was taten sie da? Sie fuhren mit dem Moped in die Stadt zur Sparkasse und brachten das Gold auf ihr Sparbuch...

Jahrzehntelang war er Schullehrer in einem kleinen Dorf in Niedersachsen, wo er seiner großen Leidenschaft, der Imkerei, nachgehen konnte. Ansonsten verlangte er nichts vom Leben, was seine Frau zutiefst erbitterte. Wilhelm hatte nämlich Therese geheiratet, eine Bauerntochter, die ihn mit Sicherheit nicht aus Liebe zum Mann genommen hatte, sondern um der schweren Arbeit und dem despotischen Vater zu entfliehen. Therese war intelligent, von beißendem Witz, ideenreich, weitsichtig, tatkräftig und ein Organisationstalent– alles Dinge, die ihrem Mann abgingen, ja, man könnte ihn fast verantwortungslos nennen, aber nur, weil ihm die Idee von Verantwortung seiner Familie gegenüber gar nicht kam. Dafür hatte er ja Therese, „Resi“ genannt. Sie war es dann auch, die die beiden Töchter auf das Gymnasium schickte, ein Auto anschaffte – sie soll viel besser Auto gefahren sein als ihr Mann – und die nach dem zweiten Weltkrieg ein Häuschen baute.

Sie war ihrem Mann in jeder Hinsicht überlegen und ließ es ihn spüren. Sie tat alles, und niemand liebte sie dafür. Wilhelm ging gewissermaßen freundlich schlafwandelnd durch die Welt, und alle liebten ihn. Resi hatte für ihn, ihre eigenen Kinder und Enkelkinder nur Verbitterung und Verachtung.

 

Ich habe meine Großmutter immer gefürchtet und – natürlich – meinen Großvater Wilhelm sehr geliebt. Von ihm habe ich die Freude am Erzählen und den Wortwitz geerbt. Im Nachhinein verstehe ich meine Großmutter Resi, die einfach mindestens 50 Jahre zu früh geboren worden war und nicht das Leben führen konnte, das ihren Fähigkeiten entsprochen hätte. Lebte sie heute, wäre sie bestimmt Chefin eines florierenden Unternehmens – aber wahrscheinlich auch gefürchtet von ihren Angestellten.

 

Wilhelm ist bei bester Gesundheit 85 Jahre alt geworden – niemals krank. Er hat im August 1969 die ganze Nacht aufgesessen, um die erste Landung von Menschen auf dem Mond zu verfolgen. „Ich habe die erste Glühlampe erlebt, das erste Auto, das erste Flugzeug – nun will ich noch sehen, wie Menschen auf dem Mond landen“ sagte er.

Danach war er es zufrieden, war lebenssatt und starb still und friedlich im November desselben Jahres.

Der porzellane Kopf seiner Meerschaumpfeife, auf dem ein Abbild des Seminars in Bederkesa zu sehen ist sowie die Namen seiner Kommilitonen des Abschlussjahrgangs 1906, hat einen Ehrenplatz in meinem Arbeitszimmer. Vielleicht findet sich darunter auch der Name seines Freundes und Kommilitonen, der mit ihm auf dem Foto zu sehen ist.

Ich schreibe diese Erinnerungen an meinen unvergessenen Opa an dem Schreibtisch aus Eichenholz, den er sich im gleichen Jahr zugelegt hatte.

 

 

 

(C) Copihue 2013