Handgemalter Wetterbericht
Handgemalter Wetterbericht

Der Urlaub der kleinen Dinge

 

Auf meinen Reisen habe ich in 5200m Höhe einen Pass in den Anden überquert, bin mit einem Fischkutter nach Patagonien geschippert, habe die Wasserfälle von Iguazú bei Schneetreiben erlebt, bin im Winter von Buenos Aires mit dem Zug durch die Pampa bis San Carlos de Bariloche gefahren.

 

Nun war ich wieder auf Reisen.

Die Erlebnisse waren eine Nummer – oder mehrere? – kleiner, dafür aber besinnlich, erstaunlich und oft genug vergnüglich.

Ich vergesse immer wieder, wie groß und wie dünn besiedelt Frankreich ist. Die Normandie ist riesig! Die Pont de Normandie führte uns hinein.

Und irgendwann, nachdem wir unzählige Ortschaften mit Bindestrich-Namen passiert hatten, da waren wir da, auf dem Campingplatz La Vanlée, direkt am Meer – da, wo der Ärmelkanal so langsam sich zum Atlantik öffnet.

An der Rezeption wurden wir vom Wetterbericht begrüßt: handgemalt, aber in keiner Weise übereinstimmend mit dem, was uns am nächsten Tag entweder auf den Kopf brannte oder über uns hereinbrach. Das war manchmal ganz schön happig und vielleicht auch wirklich nicht vorhersehbar.

 

 

Muschelbank
Muschelbank

Ebbe ist interessanter als Flut.

 

Spektakulär war der Strand. Und zwar bei Ebbe. Bei Wasserhochstand taten wir das, was alle tun, nämlich baden oder schwimmen. Was alle tun? Wenig genug. Im Grunde nur wir und ein paar unerschrockene Franzosen, die sich – mit Thermometer ausgerüstet – ins Wasser wagten, um dann laut schallend den im Trockenen Gebliebenen zu verkünden: „22 Grad“!

Das Wasser war tatsächlich relativ warm. Der Meeresboden fällt nur ganz langsam ab, der Tidenhub ist enorm – 10 Meter – und so hat das Wasser bei seiner Rückkehr Zeit, sich hübsch zu erwärmen. Umso größer die Verblüffung zu sehen, dass kaum einer ins Wasser sprang.

Ganz anders das Bild bei Ebbe. Das Wasser zieht sich enorm weit zurück und gibt dabei die Muschelbänke frei. Nun sind die Franzosen da ( wir auch, übrigens), diesmal mit Hacken und Eimern bewehrt, um Miesmuscheln, den Palourdes (sehr fleischig, sehr lecker, und auf dem Markt sehr teuer), oder auch Austern aufzuspüren. Zu Hunderten ziehen sie ins Watt, wenn die Trecker losfahren und die Muschelbauern ihre Arbeit verrichten. Es sind so viele, und die reich bestückten Muschelbänke und Stelen offensichtlich so verlockend, dass wahrhaftig Polizei vorm nassen Ort war. „Bitte 3m Abstand von den Muschelbänken halten!“

Wir hielten uns brav daran, fanden aber trotzdem genug, um eine leckere und geradezu sensationell frische Meeresfrüchte-Mahlzeit zu genießen.

Die wurde in unserer mobilen Klappzelt-Küche zubereitet. Viele Leute, besonders Franzosen, standen in stummer Ergriffenheit vor dieser zusammenklappbaren Komplettküche…

Das Watt bietet eine große Vielfalt von tierischem Leben, auch wenn dieses ziemlich klein ausfallen kann. Meine Lieblinge waren die Taschenkrebse, die sich zwecks Tarnung leere Schneckengehäuse überstülpen und dann in wilder Flucht ein Versteck suchen, d.h., sie buddeln sich blitzschnell im Boden ein. Das war schon ein komischer Anblick: Schneckengehäuse, die auf dünnsten Spinnenbeinchen ( wenn man bei Taschenkrebsen davon reden kann!) herumsausen… Da sagt Frau dann natürlich: „Ach, wie süüüß…!“

Ab und zu schaute ich etwas besorgt auf. Ich habe enormen Respekt vor dem Wasser und weiß, wie schnell die Flut hereinkommt. Aber solange noch Trecker draußen waren, konnte man unbesorgt mit der Nase über dem Boden und einen sich bildenden Sonnenbrand auf dem Rücken das Watt erkunden.

 

 

 

Friedhof von Bréhal
Friedhof von Bréhal

Friedhöfe, die heimliche Leidenschaft.

 

Jedes Volk, ja, jeder Landstrich hat ein anderes Verhältnis zu der letzten Ruhestätte seiner Toten.

Hier im nördlichen Emsland könnte man glauben, sich in einen üppigen Blumengarten verirrt zu haben, wenn man dem Friedhof einen Besuch abstattet.

In der Normandie, bzw. in dem Städtchen Bréhal, ist das eine eher spröde Angelegenheit. Die Wege waren mit hellem Kies bestreut und es gab Unmengen von Hortensienbüschen. Das war es dann aber auch mit Blumen, wenn man von denen aus Porzellan absieht, die sich hier und da fanden.

Auf einer Grabplatte standen kleine Steintafeln, die von den Kindern, den Cousins, den Nachbarn dort aufgestellt waren.

Aber im allgemeinen sah es eher trostlos aus. Die verrosteten Kreuze standen krumm und schief, und sogar dem berühmtesten Bürger Bréhals, dessen Grabstätte an prominenter Stelle gleich beim Eingang lag, war ein zerstörtes und zerfallendes Grabmal beschieden. Dabei war er ein Vicomte gewesen, der in der französischen Nationalversammlung gesessen hatte. Außerdem war er jahrzehntelang Bürgermeister bis zu seinem Tod 1925 gewesen.

Es schien mir so, als ob die verrosteten Kreuze diesem immer noch weißen Grabmal hinterher tanzten.

 

Ruine einer uralten Kirche
Ruine einer uralten Kirche

Die heitere Ruine

 

In St-Martin-le-Vieux, dicht bei Bréhal, steht die Ruine einer Kirche, deren ältester Teil aus dem 9. Jahrhundert stammt.

Es ist die ordentlichste, hellste und fröhlichste Ruine, die ich ja gesehen habe.

Vielleicht, weil sie aus hellem Naturstein erbaut worden ist und das Areal, auf dem sie steht, viele große Hortensienbüsche aufweist? Oder entsteht dieser Eindruck deshalb, weil sie von Häusern umgeben ist, die stark an die englischen Cottages erinnern?

Sie bietet dem Fotografenauge auf jeden Fall viele schöne Perspektiven! Und hat man sie von allen Seiten fotografiert, dann kann man sich den eben erwähnten Häusern aus Naturstein zuwenden und da ganz köstliche Sachen entdecken. Die Katze aus Porzellan, die auf dem Zaunpfahl sitzt und einen Gartenzwerg à la Normandie, der ihr auf dem nächsten Pfahl Gesellschaft leistet…

Nicht sehr spektakulär, gewiss nicht, aber sehr fröhlich und in frischen Sommerfarben.

 

Disteln am Strand
Disteln am Strand

Disteln und Schnecken

 

Die Stranddisteln hatten es mir angetan. Sie pieksten nicht nur, sondern bildeten immer neue graphische Muster – meist mit integrierten Schnecken!

Mal ähnelten sie einem Feuerwerk, dann erglühten sie im Abendlicht; bei Blitzlicht machten sie einen regelrecht erschreckten Eindruck…

 

 

 

Wer in dieser Gegend Urlaub macht, der muss unbedingt auf den Mont Saint Michel, der im Watt liegt, und um den sich die Bretagne und die Normandie streiten - jeder möchte diese alte Klosteranlage für sich reklamieren.

Wir haben ihn uns von normannischer Seite angeschaut, quer über die Bucht hinüber. Da sah er aus wie auf dem Coverfoto eines Fantasy-Romans…

Wir sind dann lieber zurückgekehrt zu unserem Platz, dem Strand, den Muscheln, Krebsen und Hortensien; haben uns auf den Märkten der Region herumgetrieben und Cidre und Poiré ( ist praktisch dasselbe wie Cidre, nur auf Birnenbasis) vom Erzeuger gekauft und es uns gut gehen lassen.

 

 

 

Schlußendlich habe ich dann doch noch die Kurve nach Südamerika gekriegt: ich traf auf einen älteren Herren, der von Patagonien etc. sprach. Auf mein vorsichtiges Nachfragen stellte sich dann heraus, dass er zur gleichen Zeit in derselben Gegend Südchiles wie ich gelebt hatte. Da gab es dann kein Halten mehr, und die Konversation wurde nur im reinsten Chile-Spanisch weitergeführt…

 

Nein spektakulär war der Urlaub nicht; dafür aber erholsam – ein Urlaub der kleinen Dinge eben.

 

Der Superstrand von La Vanlée
Der Superstrand von La Vanlée