Cerro Sta Lucía
Cerro Sta Lucía

Rückkehr nach 30 Jahren

 
Es ist ganz einfach, nach Chile zu fliegen: Flugverbindungen im Internet heraussuchen, buchen, per Kreditkarte bezahlen und das Flugticket selber ausdrucken – fertig.
Der Flug selber ist dann schon anstrengend, wenn man – wie ich – von Paris nonstop nach Santiago fliegt. Da hockt man fast bewegungslos 13 Stunden in seinem Sitz und betrachtet den nächtlichen Himmel, weil einem gar nichts anderes übrig bleibt. Der Sitznachbar ist eingeschlafen und hängt mit seinem Kopf praktisch auf deiner Schulter; du selbst hast einen phantastischen Ausblick auf die Tragfläche, und außerdem ist es Nacht.
In diesen langen Stunden machte ich allerdings eine Entdeckung: mir war zwar bewusst gewesen, dass auf der südlichen Hemisphäre die Jahreszeiten den unseren entgegengesetzt sind und die Sonne am Mittag im Norden steht – dass aber auch der Mond sich „dreht“, das habe ich erst in dieser Flugnacht gelernt.

Nach 30 Jahren musste sich viel geändert haben. Zum Beispiel schon mal der Namen des Flughafens, der für mich immer noch „Pudahuel“ heißt, in der Zwischenzeit aber nach einem Mitglied der ehemaligen Militärjunta benannt worden ist. Es gibt aber Überlegungen, zu dem ursprünglichen Namen zurück zu kehren.
Die Kordillere war noch tief verschneit. Im Glanz der Morgensonne sank das Flugzeug dem Ziel Santiago entgegen. Ich war da.
Angesichts des langen Fluges gönnte ich mir ein Taxi – „das günstigste Taxi von ganz Santiago!“ – ja, ja. Dafür braucht man natürlich Geld in der Landeswährung ( ich hatte vorher schon den Hinweis bekommen, dass der US-Dollar, der früher so heiß begehrte, in Zeiten des starken Euro nicht mehr geschätzt wurde), und das bekam ich am Flughafen: der Geldautomat akzeptierte klaglos meine EC-Karte. Das hatte es früher nicht gegeben!
Diesen Satz habe ich nun einmal hingeschrieben – das soll aber auch das letzte Mal gewesen sein. Im Grunde müsste ich ihn hinter jeden neuen Eindruck setzen. Eines war dann doch altvertraut: im Oktober 2008 entsprach 1 Euro knapp 8.000 Pesos, und der Geldschein mit dem höchsten Nennwert war die 10.000 Peso-Note. Früher hieß die Währung „Escudo“ und war genauso wenig wert. Mit dicken Geldbündeln bewaffnet stieg ich ins Taxi, bestaunte die Tatsache, dass es zwischen Flughafen und Stadt eine Autobahn gab und lernte, dass die Panamericana, also die große Nord-Süd-Straße, über mindestens 2000 km derartig ausgebaut war. Ripio-Straßen gäbe es nicht mehr. Aha, also kein gegen den Boden des Fahrzeugs donnerndes Geröll und endlos wehende Staubfahnen mehr.
Dann war ich in Santiago, und 30 Jahre versanken im Nichts. Auf den ersten Blick hatte sich nichts geändert – auf den zweiten auch nicht. Beim dritten fiel mir auf, dass auch in den Seitenstraßen überall „Centros de llamada“ zu finden waren. Kleine Läden mit vielleicht 2 oder 3 Kabinchen, von denen aus man ungeheuer günstig in die ganze Welt telefonieren konnte. Oft waren damit auch Internet-Cafés verbunden: „Der schnellste Internet-Zugang Südamerikas!“. Allerdings war das dann häufig mit einem Zusatz versehen : „No funciona“. Und das brauche ich bestimmt nicht zu übersetzen.
Mit Entzücken stellte ich fest, dass ich – nach 28 Jahren des Lehrens von korrektem Spanisch – mühelos in das Castellano chilenischer Prägung zurückfiel. Ich verschluckte jedes „s“ am Ende eines Wortes und hängte Verkleinerungsformen an Wörter, die man im Deutschen überhaupt nicht verkleinern kann!
In dem hostal, dem „Patio Suizo“ im Stadtteil Providencia, durfte ich dann wieder Deutsch sprechen. Der Besitzer ist Schweizer, das Personal bestand zu fünfzig Prozent aus jungen deutschen Praktikantinnen. Eine gestand mir errötend, dass sie aus Meck-Pomm käme; es klang regelrecht verschämt. Sie war total vom Chile-Virus infiziert, was ich gut verstehen konnte, und hatte es gerade geschafft, noch ein halbes Jahr an die vorgesehene Verweildauer anzuhängen. Diese kleine Pension war eine absolut spartanische Einrichtung. Um einen Innenhof, den „patio“, gruppierten sich ein paar Zimmer, die irgendwie da hingebaut worden waren und nicht einmal ansatzweise irgendwelchen Bauvorschriften entsprachen, noch nicht einmal chilenischen, will mir scheinen. Es gab auf meinem Flur nur ein Badezimmer, das reichte für alle. Gefrühstückt wurde gemeinsam an einem Tisch, um den sich die vorwiegend deutsch sprechenden Gäste drängten. Die waren dann so, wie sie überall sind: ein paar sehr nette deutsche Lehrer aus Sao Paulo und eben auch ein unangenehmer Mensch, der schon seit 5 Jahren mit seiner Frau im Wohnmobil Südamerika bereiste und stolz darauf war, kein Wort Spanisch zu sprechen. Er konnte es nicht ertragen, dass ich ein paar gemeinsame Ansatzpunkte mit den Lehrern hatte und funkte immer dazwischen. Nun war sein Womo ernsthaft kaputt, und er musste notgedrungen die Reparatur in Santiago abwarten – so was dauert, wenn man denn Original-Ersatzteile braucht.
In den Zimmern standen ein Bett und …und… äh, ein Stuhl, glaube ich, ein Tischlein auch noch. Aber das Bettzeug war sauber, die Matratze gut, das Bad geputzt. Und es gab in einem kleinen Bretterverschlag das, was dann in jedem hostal zu finden war: ein Computer mit kostenlosem Internet-Zugang.

Santiago ist keine besonders attraktive Stadt, wenn man mal von dem Cerro Sta. Lucía absieht, der früheren Festung, die sich im Zentrum erhebt und die heute zu einer Art grünen Lunge der Stadt geworden ist. Fast alle südamerikanischen Städte sind von ihrer Anlage her langweilig. Sie sind geplant, in „cuadras“ aufgeteilt, also in Quadrate, was auf jeden Fall das Auffinden von Straßen erleichtert. „Zur Calle Ahumada? Da gehen sie drei cuadras geradeaus und dann zwei cuadras links.“
Es war Sonntag, und es war nichts los, obwohl es der „Día de la Hispanidad“ war, der 12. Oktober. An dem Tag im Jahre 1492 hatte Kolumbus Amerika „entdeckt“, eine Tatsache, die bis heute keinesfalls bei den indios Begeisterung auslöst. Am Cerro Sta. Lucía fand dann auch eine Kundgebung der Mapuche, der chilenischen Ureinwohner, statt, bei der mit viel Rhetorik ein „Wir wollen unsere alten Gebiete wieder, unsere Rechte, unsere Religion“ gefordert wurde. Worte bedeuten viel in Südamerika; Fakten und Taten dann weniger.
Auf der Plaza de Armas ( dem „Waffenplatz“; immer die zentrale plaza, von der aus die Bebauung der Städte ausging. Erstmal ein Quadrat – die plaza -, auf der einen Seite die Kirche, ihr gegenüber die Bank. Das hat schon immer gut funktioniert.), also auf der Hauptplaza fand eine Heiligenprozession statt. Es waren hauptsächlich Frauen, die aus lauter Ehrerbietung rückwärts vor der Statue der Heiligen – fragt nicht, welcher – schritten. Sie sahen nicht sehr chilenisch aus; härter und mit mehr Indio-Blut. Aha, es waren Peruanerinnen.
Meine drei Reisebegleiter und ich strebten einem ganz anderen Ziel zu. Wir wollten Montag Mittag mit dem Bus Richtung Norden fahren, nach San Pedro de Atacama, schlappe 1.790 km weit weg. Ein Freund hatte bereits Fahrkarten für uns gebucht, die wollten wir holen.
Und das Wunder, es geschah, will heißen, es geschahen gleich mehrere Wunder.
Die Metro in Santiago ist 30 Jahre alt – ich war seinerzeit damit gefahren, als sie brandneu war. Und so sah sie immer noch aus: absolut sauber, keine Graffiti, keine ein- und aufgerissenen Polster, es war sagenhaft. Dann: das Büro von „TurBus“ (nein, ich habe mich nicht verschrieben) hatte geöffnet, die Buchung war bestätigt, die Karten da. Ich hätte vor Freude weinen können. Die Abfahrt sollte am Montag, 12.25 Uhr, stattfinden. Und jetzt kommt’s: der Bus fuhr tatsächlich, auf die Minute genau, p ü n k t l i c h, ab. Ich konnte es nicht fassen.