Foto: Anna Sommerer
Altes und Neues im Hafen von Buenos Aires. Foto: Anna Sommerer

Mit dem Zug durch die Pampa

Urlaubszeit! Die Sommerferien waren sehr lang - vom 15. Dezember bis 15. März.
Bei einer so langen Ferienzeit war für den Rest des Jahres nicht mehr viel drin. Im Juli gab es 14 Tage Winterurlaub, im September noch etwa 10 Tage um den Nationalfeiertag am 18.9. herum, das war´s.

In einem Juli flog ich nach Deutschland, um nach Mutter und Schwiegervater und vermietetem Eigenheim zu sehen, und um natürlich wieder Dinge auf Vorrat zu kaufen, die es in Chile nun mal nicht gab. Leider war auch ziemlich Schwergewichtiges dabei. Um nicht für allzuviel Übergepäck zahlen zu müssen ( Handgepäck wurde n i c h t gewogen), passierte ich anmutigen Schrittes den Zoll, mit allerdings zwei Stoßdämpfern in der Handtasche...

Dann ging es wieder zurück, aber nur bis Buenos Aires. Dort traf ich mich mit meinem Mann, der mit dem Auto von La Unión nach Bariloche gefahren und von dort aus in die argentinische Hauptstadt geflogen war. Von Bueno Aires aus ging es per Flugzeug ganz in den Norden, ins Länderdreieck Argentinien/ Paraguay/ Brasilien, zu den Wasserfällen von Iguazú.
Dort blieben wir einige Tage, es folgte der Rückflug nach Buenos Aires, um dort mein im Hotel deponiertes Gepäck aus Europa abzuholen und am nächsten Tag nach Bariloche weiterzufliegen (Entfernung ca. 3000 km). Von Bariloche aus sollte es dann mit dem Auto über die Kordillere nach Hause gehen, die Schulferien neigten sich schließlich dem Ende zu.
Prima Plan, nicht wahr?
Er ging leider schief.
Als wir von Iguazú zurückkamen war die große Nachricht in Buenos Aires: die Piloten von Aerolineas Argentinas streikten. Ach du große ...
Kaum hatten wir die Neuigkeiten vernommen, rasten wir zu der Station der Überlandbusse, nach dem Flugzeug das zweitüblichste und bequemste Verkehrsmittel. Zu spät. Es war schon alles ausgebucht.
Damit blieb nur noch der saure Apfel namens "Eisenbahn" übrig. Wir bekamen noch Karten für den Abendzug.
Es war saukalt in Buenos Aires. Der Wind kam von der pampa und brachte unsere Zähne zum Klappern. Es muss wohl eine Vorahnung gewesen sein, die uns dazu bewegte, am Nachmittag noch für jeden von uns einen mit Schaffell gefütterten Wildledermantel zu kaufen.

Wir waren zeitig am Bahnhof, und das war gut so. Nicht, dass der Zug etwa pünktlich abgefahren wäre, nein, natürlich nicht, aber so fanden wir noch Sitzplätze. Als der Zug endlich abfuhr, war der Waggon zu etwa 200 % belegt..
Die Leute saßen auf den Rück- und Armlehnen oder auf dem Boden. Der Zug glitt durch die Vororte der riesigen Stadt ( 12 Millionen Einwohner). Der Schaffner erschien und erklärte in entschiedenem Ton, dass alle Leute ohne Sitzplatz sofort diesen Waggon zu räumen hätten. Donnerndes Gelächter war die Antwort. Nun, er hatte seiner Pflicht genügt und begann, die Karten zu kontrollieren. Ich fragte ihn, welche Städte wir passieren würden. Äh, das wusste er nicht so recht.
Wie lange die Fahrt dauern würde? Hilfloser Blick. Mit dieser präzisen Auskunft musste ich mich zufrieden geben.
Die Fahrgäste fingen an, sich häuslich einzurichten. Meine nur durch den Gang von mir getrennte Sitznachbarin begann, aus einem großen Korb Verpflegung herauszuholen und großzügig zu verteilen. So kauten wir bald gebratene Hähnchenschenkel - nur, wohin mit dem Abfall? Ganz einfach: fallenlassen.
Schon bald türmte sich auf dem Boden das, was die Archäologen bei einer prähistorischen Ausgrabungsstätte "Kulturschutt" nennen würden: abgenagte Hühnerbeine, Papierservietten, hart gewordenes Brot, Pappbecher etc. Der Mate-Becher kreiste. Jeder bekam ein Schlückchen ab. Da mussten dann häufig die Teeblätter erneuert werden. Wohin mit den alten? Ein Besuch auf der Toilette bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen: der Inhalt der Becher wurde in die Waschbecken gekippt, die sofort verstopften. Das Klo war es bereits.

Auf dem Rückweg in meinen Waggon ging ich in den Speisewagen und kaufte jede Menge Schokolade, nur um einem etwaigen Aufenthalt auf der Toilette vorzubeugen.

Inzwischen hatte der Zug die Stadt gänzlich verlassen und die offene Pampa erreicht. Ich fing an zu frieren. Nanu? Ich bestellte Kaffee. Der kam auch - man musste ihn nur ganz schnell trinken, weil sich sofort auf seiner Oberfläche eine Staubschicht bildete. Die Fenster waren undicht, draußen tobte ein Sturm und -oh, nein- die Heizung fiel aus.
Die Nacht brach herein. Die Abfallschicht auf dem Boden wuchs minütlich. In der Sitzreihe hinter uns benutzte jemand eifrig seinen Kassettenrecorder. Er besaß allerdings nur eine Kassette. Ich liebe die Beatles wirklich sehr, aber wenn man über Stunden nichts anderes hört...
Vor uns hatte sich eine Gitarrengruppe zusammengefunden, die fröhlich sang und spielte. Ich sang mit.
Dazwischen immer wieder der Schaffner, der natürlich vergebens darauf pochte, dass die überzähligen Passagiere zu verschwinden hätte.
Ein wohlerzogener Einzelkämpfer verfasste eine Resolution - einen Protest gegen den Ausfall der Heizung. Er stand auf und las uns sein Schreiben vor, was bei dem ganzen Getöse - ich habe vergessen, die animierte Unterhaltung der Reisenden zu erwähnen - praktisch nicht zu verstehen war, und kein Mensch hörte zu. Nichtsdestotrotz verbeugte er sich und dankte für die ihm erwiesene Aufmerksamkeit.

In der Nacht wurde es unglaublich kalt und ich war froh, dass ich mich unter meinen neu erstandenen Mantel kuscheln konnte. Es gab zwar einen Schlafwagen, aber für den waren die Karten sofort weg gewesen.
Der frühe Morgen fand uns halberfroren, hungrig und dreckig auf unseren Sitzen zusammengekauert. Der starke Wind der Pampa hatte den Staub über uns alle verteilt.
Der ganze Tag verlief so, wie bereits geschildert, nur dass wir inzwischen eine einzige große Familie waren, allerdings eine sehr große und sehr laute Familie. Das Ziel schien nicht näher zu kommen.

Die zweite Nacht brach herein. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hatte, aber jedenfalls ergatterte mein Mann einen Platz für die Nacht im Schlafwagen für mich. So konnte ich mich wenigstens etwas ausstrecken. An Schlaf war nicht zu denken, an Waschen auch nicht; beim Gedanken daran, dass meine Verdauung funktionieren könnte, befiel mich das blanke Entsetzen.

Es war um die Mittagszeit dieses Tages, als wir Bariloche erreichten.
Wir waren etwa 42 Stunden unterwegs gewesen. Die Kälte hatte sich in die Knochen gefressen, ich war hungrig und stank vermutlich wie ein Biber. Mein Gott, war ich froh, diesen Zug verlassen zu können! Deshalb wunderte ich mich sehr, dass unsere amigos von der Gitarregruppe keine Anstalten machten, ihre Sachen zusammenzupacken.
Auf meine diesbezügliche Frage bekam ich die fröhliche Antwort:
" Oh no, wir fahren gleich wieder zurück, wir sind nur de puras ganas nach Bariloche gefahren, nur aus Spaß..."


Im Zentrum von Buenos Aires. Foto: Anna Sommerer
Im Zentrum von Buenos Aires. Foto: Anna Sommerer