Seniorenkurs

oder:

Bei mir steht das aber nicht

 

 

Mein Fachbereichsleiter ruft mich eines Tages an. „Kollegin X ist ausgefallen – könnten Sie vielleicht den Seniorenkurs am Donnerstag Vormittag übernehmen?“

Es gibt kaum eine Personengruppe, die ich in meiner beruflichen Laufbahn nicht unter meinen Fittichen gehabt hätte: Grund- und Hauptschüler, Orientierungsstufler, chilenische Grundschüler, Arbeitslose, in Firmen Beschäftigte, freiwillig und etwas unfreiwillig Lernende. Ich hatte alles erlebt, alles gesehen, kannte jede Ausrede, jedes Verhaltensmuster - dachte ich.

So übernahm ich den Kurs, unterließ es jedoch zu fragen, w a r u m Kollegin X denn ausgefallen war...

Ich wusste ja, dass Erwachsene, wenn man sie in eine Schülersituation versetzt, sich wie ebensolche benehmen( „Habe mein Buch zuhause vergessen“ „Eben konnte ich das noch“), darauf war ich vorbereitet.

Es ist auch bekannt und durchaus legitim, dass in VHS-Sprachkursen Menschen ganz einfach vorrangig andere Menschen kennenlernen möchten, dass also der reine Spracherwerb nicht unbedingt im Vordergrund steht.

Auf das, w a s in diesem Englischkurs im Vordergrund stand, war ich allerdings nicht gefasst gewesen.

Der Kurs hätte nicht „Englisch für Senioren“ heißen müssen, sondern „Wie erlange ich Aufmerksamkeit, sofort und absolut, und unbedingt in höherem Maße als alle anderen“.

Wilma war die eifrigste Verfechterin dieses Untertitels. Sie hatte alle Strategien drauf. Beispiel gefällig?

Ich teile Fotokopien aus. Jemand beginnt zu lesen. Wilma: „Bei mir steht das aber nicht!“ Als hätte ich mit einer Nagelschere diesen Satz extra aus ihrer Kopie herausgeschnitten... Aber: Ziel erreicht. Ihre Nachbarinnen beugen ihre Köpf über ihren Text. „Da, Wilma, da steht es doch!“ „Also, ich sehe das nicht.“ „Doch Wilma, hier, da steht es...“ Nach einigem Hin und Her akzeptiert Wilma die Tatsache, dass sich dieser Satz auch in ihrer Kopie befindet.

Oder: Wilma ist an der Reihe. Wilma sagt aber nichts. Der Chor der Mitstreiterinnen: „Wilma, du bist dran!“ „Iiich? Nein, nein, Uta ist dran!“ „Nein, Uta war doch schon eben dran...“usw. Bis sie sich dazu bequemt, ihren Beitrag zu leisten, hat sie sich die ungeteilte Aufmerksamkeit des Kurses gesichert.

Wenn aber irgendwann die erprobten Strategien nicht mehr griffen, dann fuhr Wilma ihr stärkstes Geschütz auf. „Ich glaub, ich hör auf mit Englisch.“ Kollektiver Aufschrei der übrigen Teilnehmer. „Aber Wilma, du kannst uns doch nicht im Stich lasen! „Du musst unbedingt dabei bleiben!“ „Du kannst doch jetzt nicht alles hinschmeißen!“ Und Wilma sitzt dazwischen, mit einem Lächeln im Gesicht, das mich stark an das Lächeln der Cheshire-Katze erinnert.

Und ich weiß, dass jetzt mal wieder meine Fähigkeiten als Kursleiterin gefragt sind, sprich eine Mischung aus Psychotherapeut und Löwenbändiger zu sein.

Hanni hat sich was anderes ausgedacht. Der Kurs besteht aus 14 Damen im Alter zwischen etwa 70 und 80 Jahren. Die Damen sind Witwen - bis auf Hanni. Sie lächelt stets sanft, aber man sieht unter der Haut den blanken Stahl schimmern. Hanni schleppt ihren Ehemann mit, der recht lustlos neben ihr sitzt und alle 10 Minuten in Richtung Klo verschwindet – es ist halt die Prostata. Hannis Botschaft ist klar: „Ich hab noch einen, ätsch, und ihr nicht mehr!“

Das merken die Anderen auch und rächen sich. „Hanni und Udo arbeiten schon immer vor!“ wird mir vor Kursbeginn vertraulich mit geteilt.

 

Eines Tages geschieht das Unerhörte: der Kurs verzeichnet einen Neuzugang – eine Holländerin, mindestens 10 Jahre jünger als der Rest. Das ist an sich schon schlimm genug, aber die setzt sich doch t a t s ä c h l i c h einfach irgendwohin!! Als sie mit spitzer Zunge auf diesen nicht zu tolerierenden Umstand hingewiesen wird, antwortet sie nur fröhlich: „Ah, dann setze ich mich eben woanders hin...“

Am folgenden Donnerstag steht Wilma bereits 20 Minuten vor Beginn vor dem noch verschlossenen Seminarraum. „Man kann sich ja nicht mehr sicher sein, dass man noch seinen Platz bekommt“

 

Irgendwann erzähle ich einem guten Bekannten einige Begebenheiten aus diesem Kurs. „Hmm, die klingt genau wie meine Tante Wilma...“

Es w a r seine Tante Wilma. Er hat mich aber nicht verpetzt.

 

Ich habe fast 5 Jahre durchgehalten. Und ich konnte mir meinen Fachbereichsleiter vorstellen, wie er sagt: „Kollegin G. ist ausgefallen...Könnten S i e vielleicht den Seniorenkurs am Donnerstag...?“