Reha – oder: Mit dem Rollator gegen den Rest der Welt

 

 

Als der liebe Gott seinerzeit die Sinneswahrnehmungen verteilte, blieb zum Schluss noch etwas übrig. Mit diesem Restposten in der Hand sah er sich suchend um, bis sein Blick auf mich fiel. "Möchtest du vielleicht...?"
Seitdem bin ich mit der Gabe ausgestattet, im Verhalten meiner Mitmenschen zuallererst die Komik oder Absurdität ihres Handelns zu sehen, und das auch noch in allen Lebenslagen.
Die Reha-Klinik, sollte man meinen, ist bestimmt kein Ort, an dem man Lust hat, die anderen Rehabilitanten mit Interesse zu beobachten, weil man zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Aber wenn man schon mal diese Gottesgabe hat...
Im vorletzten Herbst war ich vier Wochen in einer Reha-Klinik für Herz- und Gefäßerkrankungen. Die Menschen, die dort wieder langsam aufgebaut werden sollten, hatten in der Mehrzahl schwere Herzoperationen hinter sich. Uns allen dort war uns unsere Endlichkeit sehr bewusst gemacht worden. Das lehrt Toleranz, Demut und die Fähigkeit, Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden zu können und dann zu sehen, dass es nur sehr wenige wichtige Dinge im Leben gibt - sollte man meinen.
Weit gefehlt. Es war faszinierend zu sehen, wie mit starrem Blick an Verhaltensmustern festgehalten wurden, die man sicher auch schon vor der einschneidenden OP befolgt hatte.
Die Klientel bestand aus überwiegend älteren, übergewichtigen Männern. Die wenigen Frauen blickten größtenteils verschreckt, als hätten sie noch gar nicht begriffen, was ihnen passiert war.
Die Männer hatten das mit Sicherheit nicht, denn sie machten dort weiter, wo sie vermutlich vor der OP aufgehört hatten: sie gaben ganz entsetzlich an.
Es entstand ein regelrechter Wettkampf in der "Wer-hat-die-meisten-Bypässe" - Disziplin. "Der Sänger hat schon 7 Bypässe!" wurde ehrfürchtig geraunt. Das wusste wirklich jeder, weil der Sänger keine Gelegenheit ausließ, um a) auf diese Tatsache hinzuweisen und b) einen ständig daran erinnerte, dass er ein ausgebildeter Sänger war. ("Nach meinem letzten großen Konzert in...") Damit nicht genug, musste er im Bewegungsbad ("Die Akustik!!") Proben seines Könnens abgeben und intonierte unaufgefordert Tonleitern, um dann zu neckischen Couplets aus irgendwelchen Operetten überzugehen (ich kann Operetten nicht leiden), und zwar besonders dann, wenn jüngere Damen zugegen waren. Er hatte eine wirklich gute Stimme, aber wir jüngeren Damen schauten uns nur augenrollend an und eine knurrte verbissen: "Singen kann ich auch".
Ein anderer hielt tapfer gegen soviel Sänger-Präsenz mit der Bemerkung: "Bei den Dreharbeiten in Finnland...mit Rentierschlitten transportiert...beinahe wäre die Fähre schon weg gewesen...", was aber gnadenlos niedergesungen wurde.
Viele dieser Männer wurden von ihren Frauen begleitet, die seltsamerweise viel müder und antriebsloser wirkten als ihre Männer. Bis auf "Meine Lebensgefährtin Frau Müller-Ravendonk". Die jagte ständig hinter ihrem Kerl her, beide wohl extrem kurzsichtig, sie verfehlten sich ständig. "Ich wollte mich hier beim Ergometer-
Training mit meiner Lebensgefährtin Frau Müller-Ravendonk treffen - haben Sie sie vielleicht gesehen?" Ich hatte. Die Dame war ein Stockwerk höher mit einem Paar Tennissocken in der Hand herumgeirrt.
Beim Planschen im Bewegungsbad konnte ich mir nicht verkneifen, ihm zu sagen:"Da draußen am Fenster steht Ihre Lebensgefährtin Frau Müller-Ravendonk und winkt Ihnen zu." Er winkte heftig zurück - in die völlig falsche Richtung. Das machte aber nichts, weil sie nämlich, angestrengt die Stirn runzelnd, ihn auch nicht sah.
Daneben gab es einige weibliche Nervensägen, die alles besser wussten, sich über alles und jedes beschwerten und aufregten und genauso angaben wie die Männer: "...und da habe ich zum Chefarzt gesagt: Sie haben Ihre Station nicht im Griff!" So macht man sich Freunde beim ärztlichen sowie beim Pflegepersonal...
Beim abendlichen Buffet war ich der Star. Ich war nämlich n i c h t übergewichtig, ganz im Gegenteil, ich hatte im Krankenhaus und in der ersten Reha-Woche 9 Kilo abgenommen und war klapperdürr. So wurde mir ein Extra-Fress-Programm verordnet und ich in Butter, Sahne und Malzbier gewälzt, was mir sehr geneidet wurde. Da wurde man schon mal aus der Warteschlange gedrängelt.

Von all diesen Machenschaften bekam eine Gruppe überhaupt nichts mit: Die Rollatoren-Gang. Für Nichteingeweihte: ein Rollator ist das, was früher ein Gehbänkchen genannt wurde, es ist eine rollende Geh-Hilfe. Die brauchen Leute, die schlecht zu Fuß sind. Ich habe sie fürchten gelernt. Sie walzen alles nieder, was ihnen im Wege steht.
Die Aufzüge in dieser Reha-Klinik sind sehr geräumig. Aber wenn fünf Rollatoren hereingerollt kommen und dich gewissermaßen an der Kabinenwand festnageln, dann hast du keine Chance. Ich wollte im Untergeschoss aussteigen und tat das auch kund. Keine Reaktion. Die Rollatoren-Besitzer guckten mit glasigen Blicken durch mich hindurch. Sie hätten sich sonst nämlich in irgendeiner Weise bewegen müssen. Ich überlegte kurzfristig, ob ich den mir am nächsten Stehenden mit einem Fausthieb zu Boden strecken sollte, aber erstens hätte mir die Kraft dazu gefehlt, und zweitens hätte der Körper neben dem Rollator noch ein weiteres unüberwindliches Hindernis gebildet. Also fuhr ich wieder mit nach oben. Ein Herr beschwerte sich die ganze Zeit, dass der Aufzug nicht im 4. Stock hielt. Ich wies ihn darauf hin, dass er nicht den entsprechenden Knopf gedrückt hätte. Er hörte nicht zu, sondern jammerte weiter.Der Aufzug fuhr wieder nach unten, dann wieder nach oben. Bei irgendeinem Stopp in irgendeinem Stockwerk bewegte sich ein Rollator nach draußen und ich schlüpfte mit hinaus. Ich erzählte die Begebenheit dem Physiotherapeuten. "Ja, ja," sagte er, "diese Leute sind hier, aber viele wissen es gar nicht."

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann fahren sie noch heute im Aufzug rauf und runter...