Untenende - Obenende

Auf ewig zweigeteilt…

 

Meine kleine Stadt im Emsland ist nicht groß, was die Einwohnerzahl anbelangt: etwa 35 000, ein paar umliegende Dörfchen inklusive. Aber sie ist lang! 18 km steht Haus an Haus an den schier endlosen Kanälen. Das findet man anderswo nicht, das ist schon etwas Besonderes.

Das speziell Besondere daran ist aber die Unterteilung in Unten- und Obenende.

 

Das Untenende hat ein Zentrum; hier finden sich die Geschäfte, Supermärkte, Apotheken, Eisdielen, , Restaurants etc. In den Wohngebieten häufen sich die Lehrer, Ärzte ; im „feinen“ Wohnviertel die Inhaber und höher- und hochrangigen Mitarbeiter der wenigen großen Firmen.

 

Das Obenende hat ein Zentrum; hier finden sich die Geschäfte, Supermärkte, Apotheken, Eisdielen, Restaurants etc. In den Wohngebieten wohnen die wahren Einwohner, also die, deren Vorfahren vor über 300 Jahren das Moor kultiviert haben. Hier ist man katholisch und relativ unberührt von dem konfessionellen Mischmasch, der am Untenende anzutreffen ist.

Die Welt ist hier im Großen und Ganzen noch in Ordnung. Wo sonst wird man, bitteschön, von wildfremden Kindern, die auf dem Weg zur Schule sind, gegrüßt? Sie gehen übrigens zur Grund-, Haupt- oder der Obenender Realschule - das Untenende hat natürlich ein eigenes Schulzentrum, allerdings inklusive Gymnasium. Es hat sogar zwei davon! Das eine ist ein von Nonnen geleitetes Mädchengymnasium - ist hier etwa die Welt auch noch in Ordnung??

 

Ich habe 21 Jahre am Untenende gelebt. Dann wollte ich umziehen und möglichst zentral wohnen – selbstverständlich am Untenende. Als mir dann durch Zufall eine traumhaft schöne Wohnung am Obenender Zentrum angeboten wurde, war ich völlig verblüfft: an die Möglichkeit hatte ich nun wirklich nicht gedacht.

Ich habe dann tatsächlich Neuland betreten.

Der echte Obenender bleibt seiner Herkunft treu. Er spricht vorzugsweise Platt ( in den Geschäften stehen vielfach Schilder mit der Aufschrift „Wi proat Platt“, was soviel wie „Wir sprechen Plattdeutsch“ heißt) und weiß mühelos den Mädchennamen der Großmutter väterlicherseits seines Nachbarn zu nennen - wahrscheinlich sind sie sogar verwandt. Der Ort liegt selbst heute noch recht abgeschieden vom Rest Norddeutschlands nahe der holländischen Grenze; sogar der Wetterbericht greift erst ca 50 km westlich. Früher war man praktisch total isoliert vom Rest der Welt, nun ja, da blieb man eben unter sich.

Das hat zu Verhaltensweisen geführt, die die Großstädter unter euch erschüttern werden: mit Faszination sehe ich , dass die Hausfrauen Fenster putzen - ich weiß, dass tun Hausfrauen anderswo auch - aber hier werden anschließend die Rolläden heruntergelassen, damit die Scheiben schön sauber bleiben… und damit Frau Nachbarin kein Grund zum Meckern gegeben werden kann.

Der Obenender verlässt ungern sein Habitat. Ich bin mir fast sicher, dass es hier Leute gibt, die nur im Notfall zum Untenende fahren, wie z.B. zu einem Arztbesuch oder zum Stadtfest. Das findet wirklich nur am Untenende statt. Aber dafür gibt es zwei Wochenmärkte - hie am Mittwoch, dorten am Freitag.

 

Die strikte Trennung hat sich auch in die Köpfe meiner Kinder gesenkt, die alle schon lange nicht mehr in dieser schönen, zweigeteilten Stadt leben. Was rief meine älteste Tochter, als ich ihr erzählte, was meine neue Adresse sein würde? „Meine Mutter zieht ans Obenende! Ich kann mich nirgendwo mehr blicken lassen!“

Nun lebe ich hier und bin Teil einer verschworenen Gemeinschaft, bin gewissermaßen adoptiert worden. Ein Angestellter des Untenender Postamts ( das Obenende hat natürlich auch eine Filiale) outet sich plötzlich als Obenender. „Na, haben Sie sich schon gut eingelebt?“ (Die Entfernung zwischen meinem alten Haus am Unten- und meiner Wohnung am Obenende beträgt exakt 1,4 km).

Und die Apothekerin sagt: „Wie schön, dass Sie zu uns gezogen sind.“

 

Die Grenze der beiden Stadtgebiete ist genau definiert, wird an einer bestimmten Straße festgemacht. Und die Obenender fühlen sich dem Untenende gegenüber stets benachteiligt – im Stadtrat und in der Kaufmannschaft liegt man sich ständig in den Haaren.

Aber das Wohnen hier ist toll. Die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft ist enorm - die Neugier allerdings auch, und das ist etwas, was Oben- und Untenender endlich gemein haben.