Das beste Zimmer

 

Warum schweifen Wissenschaftler eigentlich in die Ferne, wenn es gilt, Lebensweisen zu erforschen, die sich grundlegend von den unsrigen unterscheiden? Seht, das Emsland liegt so nah.

Anthropologen mit wenig Geld ( „Regional-Anthropologen“?) können in oberflächlich gesehen heimischen Gefilden fündig werden – gleich bei mir gegenüber.

Da lebt ein älteres Ehepaar allein in einem großen Haus. ( Seltsam übrigens, dass sich kinderlose Paare oft riesige Paläste bauen.) Großes Haus? Noch größer, als ich dachte. Als sie ins neue Domizil zogen, tat es ihnen Leid um die alte Küche, die sie dann auch mitnahmen. Warum auch nicht? Allerdings gab es im neuen Heim schon eine tolle neue Küche. Die gibt es auch immer noch, wird aber nicht benutzt. Ist nur zum Vorzeigen da. Für die alte Küche wurde extra angebaut – da wird gekocht.

Ein anderes Paar lebt eine noch ausgeprägtere Variante. Sie bauten sich ein neues Haus direkt neben das alte. Die Einrichtung könnte aus „Schöner Wohnen“ entnommen sein, allerdings mit dem berühmten Tick zuviel. Weniger ist bekanntlich oft mehr. Die Küche allein hat etwa 20.000,- Euro gekostet. Auch diese wird nie benutzt, Gäste werden dort stolz herumgeführt. Gekocht wird in der Küche des alten Hauses…

Und was für Küchen gilt, das greift auch verschärft für Wohnzimmer. Meine Nachbarn von gegenüber haben drei.

Das war schon früher so: auf Bauernhöfen gab es die „gute Stube“, die nur zu Weihnachten oder bei besonderen Familienfeiern bewohnt wurde.

Unvergeßlich für mich der Tag – wenn ich das mal einschieben darf – als ich bei einer bäuerlichen Konfirmationsfeier an einer festlich geschmückten Kaffeetafel saß. Die Schiebetür zwischen der „guten“ und der alltäglichen Wohnstube war geöffnet, um dem langen Tisch ausreichend Platz zu bieten.

Auf einmal fiel eine Maus aus dem Türsturz und rannte zwischen Torten und Kaffeetassen herum. Der Hausherr sagte ungerührt zu seinem Sohn: „Lang mi mol een Katt her“ (für alle Nicht-Plattdeutschen: „Reich mir mal ne Katze an“). Die Katze kam. Es gab eine wilde, aber kurze Jagd auf dem Festtisch. Dann wurde die Katze samt gefangener Maus davongetragen. Der Tortenschmaus wurde fortgesetzt.

 

Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass es die „guten Stuben“ noch gibt. Nun ist es aber so, dass der Mensch im Allgemeinen voraussetzt, dass die anderen auch so denken und leben wie er.

Die besagten Nachbarn waren neulich zu Besuch bei weiteren Nachbarn, die ein wirklich wunderschönes Haus gebaut hatten. Als man dann im Wohnzimmer beim Glas Wein saß, wurden die neuen Hausbesitzer interessiert gefragt: „Ist das euer bestes Zimmer?“

 

Ich habe auch nur ein Wohnzimmer ( und ganz bestimmt auch nur eine Küche), aber es ist das allerbeste Zimmer, weil ich von hier aus einen wunderbaren Blick auf meine Nachbarn und ihr Treiben habe…

Muss mal nachsehen, ob es nicht bereits einen Studiengang für Regional-Anthropologie an der Uni gibt.