Zahltag


Auch wenn das Leben in Chile seinerzeit zumindest für Bundesdeutsche unglaublich billig war – sogar dann, wenn man legal Geld tauschte – musste man dann und wann Dinge bezahlen.

Die Telefonrechnung, zum Beispiel. Das ging ja noch. Die Telefongesellschaft war in Viña del Mar ansässig, und so konnte man dort aufkreuzen und das fällige Entgelt entrichten. Prima.

Mit anderen Rechnungen war das schon schwieriger.

Unsere älteste Tochter ging auf die Deutsche Schule, eine Privatschule, und so war Schulgeld fällig. Da wir kein Konto besaßen, konnten wir den Betrag nicht überweisen. Moment mal. Das wäre sowieso nicht gegangen, weil es dieses System der Geldtransferierung in Chile nicht gab.

Also stellte man sich Monat für Monat in die lange Schlange derer, die ebenfalls etwas zu bezahlen hatten. Kaum war ein Stündchen vergangen, war man auch schon dran.

Lo siento“, sagte der Kassierer hinter dem Schalter, „ aber seit diesem Monat nehmen wir kein Schulgeld für die Deutsche Schule mehr entgegen. Das macht ab sofort die Banco del Estado.“

Ich schloss die Augen. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Sich aufregen ist sinnlos.

Nur gut, dass zuhause meine liebe Leontina, unsere empleada, das Mittagessen zubereiten würde. Leonti war eine Perle, und zwar eine makellose. Sie war nicht nur perfekt im Haushalt, sondern sie dachte auch noch mit. Die señora war nicht rechtzeitig da? Dann nahm eben sie die Dinge in die Hand. Von den Kollegenfrauen wurde ich heftigst um sie beneidet.

Leontina war im Alter von etwa 14 Jahren in den Haushalt einer strengen Deutsch-Chilenin gekommen, die den angehenden Dienstmädchen enorm viel beibrachte – feinste Stickereien inbegriffen – die aber kein Pardon kannte, wenn es um Akkuratesse und Sauberkeit ging. Standen Gäste zu erwarten, wurde alle empleadas ( sechs an der Zahl) in die Badewanne gejagt. Die Hausherrin zog auch gerne weiße Baumwollhandschuhe an, um dann damit über Türrahmen und Schrankoberflächen zu fahren. Wehe, wenn dabei ein Stäubchen an den Fingern hängenblieb.

Ihre Dienstmädchen kannten alle Begriffe, die mit Küche und Haushalt zu tun hatten, auf Deutsch, was mir die Kommunikation mit Leonti in der ersten Zeit unseres Lebens in Südchile enorm erleichterte.

Als wir nach drei Jahren La Unión nach Viña wechselten, kam sie mit uns.

Natürlich mussten monatlich Sozialabgaben für empleadas gezahlt werden. Für diesen Zweck gab es eine einzige Dienststelle für ganz Viña, die mit zwei Angestellten besetzt war.

Es wäre so einfach gewesen: nur das Formular ausfüllen, abgeben, bezahlen, fertig.

Die raue Wirklichkeit sah anders aus. Es hieß wieder einmal warten, und zwar in einer richtig langen Schlange. Unendlich langsam rückte ich vor. Oh je. Derjenige, der das Formular auszufüllen hatte, war nicht nüchtern.

Mit Argusaugen überwachte ich ihn, als er sich das Formular vornahm. Er reichte es mir und forderte mich auf, damit zu seinem Kollegen am Schalter nebenan zu gehen, wo es natürlich auch eine ewiglange Schlange gab. Ein Blick auf das Papier und... „Falsch“, sagte ich. Er widersprach hartnäckig. Ich auch. Mein Blutdruck stieg. Er nahm sich den Zettel wieder vor und rechnete erneut.

Als er mir den wieder zurückgab, passierte etwas, was mir wirklich in fünf Jahren nur ein einziges mal passiert ist: ich verlor die Nerven und brüllte los, und zwar rief ich eine Menge an Flüchen und Schimpfwörtern aus den Tiefen meiner Seele ab, von denen ich gar nicht wusste, dass ich sie für den Ernstfall parat hatte. Er hatte nämlich 250 und 250 schriftlich zusammengerechnet und dabei 510 herausbekommen...

Er schaute mich völlig fassungslos an.

¿Pero porqué está Usted tan enojada, señora??“ Warum sind Sie denn so schrecklich wütend...?

Ich brach innerlich zusammen und winkte ab. So benehmen sich nur Gringos, seufz, ändern würde sich nichts. Ich nahm das Formular, korrigierte es und ging zum Nachbarschalter.


Von daher nahm ich dann mit großer Gelassenheit andere Dinge in Kauf, wie z.B. den Erwerb etlicher Weihnachtspostkarten, 10 an der Zahl. Auf fünfen davon war ein bestimmtes Motiv zu sehen, auf den restlichen fünf ein anderes. Jede Karte kostete 8 Pesos. Nun rechnete die Verkäuferin den Betrag aus. Sie schrieb fünfmal „8“ untereinander und – tatsächlich! - errechnete den Betrag von 40 Pesos. Dann wiederholte sie ihr Tun und erzielte die gleiche Summe.

Nun zog sie 40 und 40 zusammen, schriftlich, versteht sich, und kam auf den Endbetrag von 80 Pesos.

Als sie aufsah, stand ich da, die 80 Pesos längst in der Hand. Ihre Verblüffung war groß.

Diese Ausländer“, sagte sie, „haben alle eine computadora im Kopf.“


Zum Ende unseres Aufenthaltes in Chile verkauften wir unsere Autos. Das Geschäft ging reibungslos vonstatten, wir bezahlten brav die fälligen Verkaufssteuern. Die betrugen 1% der Verkaufssumme, einer ganz runden Zahl übrigens.

1%? Diese schwierige Aufgabe wurde ins Rechenzentrum im Nebenraum gegeben.

Schweig stille, mein Herz.


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