In Chile wird gewählt
In Chile wird gewählt

Wer die 38fache Wahl hat…

 

Während der Fahrt vom Flughafen in die Stadt schaute ich aus dem Fenster des Taxis, begierig darauf, die altvertraute Silhouette Santiagos zu sehen. Konnte ich aber nicht. Sämtliche Straßen, und ich meine wirklich alle, waren zugestellt, -gehängt, -gepflastert mit Wahlplakaten. Kommunalwahl, erklärte mir der Chauffeur. Das bedeutet in Chile keineswegs, dass es sich um ein regionales Ereignis handelt. Es gibt die Präsidentschaftswahlen und dann eben die Kommunalwahl, bei der sämtliche Bürgermeister und Stadträte ( alcalde und consejeros) des Landes gewählt werden. Santiago ist eine Stadt mit fast 5 Millionen Einwohnern, sie ist in Bezirke aufgeteilt, und jeder Bezirk hat seinen Bürgermeister und eben auch die Stadträte.

Wo man ging und stand, lächelten einen die Gesichter an. Die Slogans waren häufig ebenso unoriginell wie bei uns: „Für eine bessere Zukunft!“ Tja, wer möchte die wohl nicht! Einige wurden etwas spezifischer: „Für eine saubere Stadt!“ Häh? Also, ich hatte Chile noch nie so sauber gesehen. Dann gab es die jovialen Töne: „Hallo, Nachbar!“ sollte wohl Bürgernähe suggerieren. Eine der vielen Parteien hatte als Slogan ein „Ich kenne dich!“ ausgewählt, was für mein Verständnis einen leicht drohenden Unterton hatte.

Diese Plakate begleiteten uns auf der Fahrt in den Norden, und besonders in den Ortseingängen standen die ganz großen. Ein Ort verschwand fast völlig hinter einer Wand von Wahlwilligen. Als wir ihn hinter uns ließen, drehte ich mich um. „ Willkommen in Sierra Gorda“, stand da, „650 Einwohner“.

Bürgermeisterposten sind gut dotiert, da lohnte sich der Einsatz.

 

Am 26. Oktober war es dann soweit. In meiner kleinen südchilenischen Stadt waren die Wahllokale gut gekennzeichnet. In einer Schule, z.B., durften nur Männer zwischen 18 und 26, deren Nachname mit A bis H begann, wählen. An einem anderen Ort dann Frauen im Alter von…bis mit dem Anfangsbuchstaben von … bis…

Sehr kompliziert für unser Verständnis. Noch komplizierter für manche Familie der Wahlvorgang selbst: die Enkeltochter meiner Freunde war in Valdivia verheiratet. Sie kam mit Mann und Kindern am Vorabend nach La Unión, weil sie dort registriert war und nicht nur dort wählen konnte, sondern musste. Es besteht nämlich Wahlpflicht. Ihr Mann musste in Valdivia wählen, also hieß es am Sonntag so zeitig die 80 km zurückzufahren, dass er noch dort wählen konnte – die Wahllokale schließen bereits um 16 Uhr.

In La Unión standen drei Kandidaten zur Wahl des Bürgermeisters an. Eigentlich nur zwei: die amtierende Bürgermeisterin und ihre Herausforderin. Der einzige männliche Bewerber war Kommunist und wurde überhaupt nicht ernst genommen (er bekam dann auch etwa 3,2 Prozent der Stimmen). Das geht ja noch, das ist überschaubar.

Aber die Kandidaten für die Stadträte-Posten: 32!! Pro Partei traten etwa zwei bis drei Kandidaten an, und alle, alle mit Plakaten…

 

Es war 16 Uhr. Das Radio (für die Ergebnisse der eigenen Kommune) und der Fernseher wurden eingeschaltet. Die Ergebnisse wurden bekannt gegeben. Ja, und da war mir wieder einmal klar, dass in Südamerika das Wort immer im Vordergrund steht.

Die Ergebnisse wurden im Radio vorgelesen. Nicht nur die Zahlen der einzelnen Wahllokale, sondern auch die der Wahltische, von denen es pro Lokalität mindestens 3 bis 4 gab. Und es wurden von jedem dieser Tische in jedem Wahllokal die Ergebnisse sämtlicher insgesamt 35 zu wählenden Personen vorgelesen, selbst wenn etliche überhaupt keine Stimme bekommen hatten! Das war schon reichlich erschöpfend für die Ohren.

Und im Fernsehen? Da wurde auch vorgelesen – alle Ergebnisse des ganzen Landes. Keine Graphik, kein Vergleich zu früheren Wahlen, keine Plus-Minus Auflistung, da stand einer und las endlose Kolonnen von Zahlen vor – gelegentlich griff er zum Wasserglas, wenn ihm die Stimme zu versagen drohte. Ab und zu wurde der Vortrag unterbrochen, um zur Auflockerung von Vorkommnissen rund um die Wahl zu berichten. Die Leiterin eines der Wahlbezirke hatte Geburtstag. Na, ja. Irgendein höchst unsensibler Mensch ( oder hatte der das als lustig empfunden?) hatte in einem Lokal in Santiago einen Enkel Allendes und einen jungen Verwandten von Pinochet zur gemeinsamen Auszählung verdonnert. Die beiden Herren schauten dann auch ausgesprochen unfroh in die Kamera. In einem mehrheitlich von Arbeitern bewohnten Bezirk von Santiago hatte eine Kommunistin den Bürgermeisterposten ergattert. Sie hub an zu reden, wurde aber vom Fernsehen kaltherzig abgewürgt.

In La Unión war die amtierende Bürgermeisterin knapp abgewählt worden, gewonnen hatte die von meinen Freunden favorisierte Kandidatin. Die Freude war groß.

 

Leider ist mir völlig entgangen, wer denn nun in Sierra Gorda das Rennen gemacht hat.