Von nun an wird's gefährlich


Rückblickend schaudert es mich manchmal, wenn ich an die vielen Situationen denke, die man ohne zu übertreiben als „gefährlich“ bezeichnen kann, aber in denen mir es überhaupt nicht in den Sinn kam, mich zu ängstigen.

Da greifen wahrscheinlich all die unbewussten Überlebensinstinkte, die sich in solchen Fällen automatisch aktivieren.

Man bog in der Endphase des chilenischen Sozialismus um die Ecke einer Straße in Santiago, und geriet in eine aus der Kontrolle geratene Demo mit viel Polizei, Tränengas und Wasserwerfern?

Beine in die Hand nehmen und nix wie weg!

Ein Soldat durchsucht dein Auto - das geschah natürlich nach dem Militärputsch – und findet ein Kartoffelschälmesser im Handschuhfach?

Arma blanca!“ sagt er, eine Waffe, streng verboten! Er akzeptiert die Erklärung, dass es nur deshalb im Auto liegt, um ab und zu einen Apfel schälen zu können. „Aber“, so sagt er, „ ein paar Kilometer gibt es noch einmal eine Kontrolle, da verstecken Sie das Messer am besten hier...“ Und er nimmt die gefährliche Waffe und versteckt sie gleich selber.

Wir hätten auch an einen weniger freundlichen Menschen geraten können.

Haarig die Situation in Argentinien, als bei einer polizeilichen Kontrolle mitten in der Pampa ein Beamter das Teleobjektiv der Kamera für eine Waffe hält. Zu der Zeit war mein castellano (südamerikanisches Spanisch ) bereits so gut, dass es mir mit vielen Erklärungen und noch mehr Lächeln gelang, ihn von der Ungefährlichkeit des Objektivs zu überzeugen. Wir ließen ihn hindurchschauen – zu meiner Verblüffung bekamen wir die Kamera samt Zubehör sogar zurück. Als wir endlich weiterfahren durften, wischten wir uns dann doch den Schweiß von der Stirn.

Aber – alles richtig gemacht.


Bei „richtig gefährlich“ fallen mir spontan zwei Begebenheiten ein, die sich auch noch an zwei aufeinanderfolgenden Tagen ereigneten.

Wir fuhren am Wochenende an einen der vielen Seen am Fuße der Kordillere, um dort mit Freunden einen „asado al palo“ zu machen, einen Spießbraten. „Wir“ bedeutete in diesem Fall die deutsch-chilenischen Kollegen Rosmarie und Elias Jaramillo mit ihren Kindern, mein Mann, die beiden Töchter, meine Mutter, die ein paar Monate bei uns zu Besuch war, und ich.

Das Feuer brannte, das Fleisch brutzelte gemütlich vor sich hin, die Kinder saßen am Strand, der an dieser Stelle sehr schmal war, und spielten. Meine Mutter hatte es sich etwas oberhalb von ihnen auf der Böschung bequem gemacht, Rosmarie und ich standen uns beim Feuer gegenüber und unterhielten uns.

Dann geschah es. Es stimmt tatsächlich, dass sich eine Sekunde oder auch zwei ins Unendliche dehnen können; nie habe ich das stärker empfunden als damals.

Rosmarie brach mitten im Wort ab, starrte mit Augen so groß wie Untertassen auf etwas, was hinter mir auf mich zukam. Meine Ohren registrierten leise, aber schwere Tritte – auf dem Weg ans Wasser waren wir an Kühen vorbeigekommen, und mir schoss der Gedanke durch den Kopf, ob sie vielleicht diese Geräusche verursachten. Nein, viel zu leise. Ich habe noch nicht einmal den Kopf gewendet – es ging alles viel zu schnell – sondern nur instinktiv mein rechtes Bein näher an mich herangezogen.

Der Puma strich an meinem Oberschenkel vorbei und dann sprang er genau über die Köpfe der spielenden Kinder, um mit langen Sätzen im Unterholz zu verschwinden. Kurze Zeit später tauchten kläffende Hunde auf, die sich an die Verfolgung des Berglöwen machten.

Keiner von uns hatte aufgeschrien, dazu war die Zeit viel zu kurz gewesen.

Wir kamen dann zu dem Schluss, dass der Puma vom Geruch des Bratens angelockt worden war, er dann aber vor den Hunden, die ihn sofort gewittert hatten, fliehen musste. So hatte er also andere Sorgen, als sich über einen saftigen Braten oder kleine Kinder herzumachen...

Das war ein großes Tier gewesen, die Abdrücke der Pranken zeichneten sich im Sand ab.

Die Knie zitterten noch lange. Elias und Rosmarie hatten noch nie einen Puma in freier Wildbahn gesehen, wir auch nicht, und meine Mutter schon erstmal gar nicht!


Der zweite Vorfall war von gänzlich anderer Art, kam aber mindestens ebenso unerwartet.

Wir brauchten – aus welchem Grund auch immer – etwas, was man nur in einer ferretería kaufen konnte, in einem Eisenwarengeschäft.

Glücklicherweise befand sich eines in der Nähe. Ich war aber noch nie in dem Laden gewesen. Jetzt huschte ich schnell die hundert Meter oder so die Nebenstraße hinunter, um ein Vorhängeschloss zu holen.

Im Laden befand sich Kundschaft, die von der Tochter des Inhabers ( wie ich bald darauf erfuhr) bedient wurde, einer sehr stämmigen, fast bulligen Frau mit ganz kurzen Haaren – ungewöhnlich für eine Chilenin – und einem durchdringenden Blick. Ich wartete. Der Kunde ging. Die Frau brachte ihn zur Tür, die sie dann von innen abschloss, ehe sie sich mir zuwandte.

In meinem Kopf schrillten die Alarmglocken. Ruhig bleiben, dachte ich, nur ruhig bleiben.

Ich tätigte den Einkauf, bezahlte, und wollte den Laden verlassen.

Oh, nein, señora“, sagte sie, „ich muss Ihnen unbedingt etwas zeigen.“

Sie drängte mich mit ihrem massigen Körper ab und schob mich fast vor sich her in Richtung Wohnzimmer. Ich sei wohl eine Deutsche vom Colegio Alemán, nicht wahr? Und wie es mir hier gefiele – ein schönes Städtchen, dies La Unión, nicht wahr?

Und so weiter und so fort. Sie stand die ganze Zeit ganz dicht vor mir, vollkommen auf mich fokussiert.

Ich hatte bislang überhaupt keine Erfahrung mit Homosexualität gemacht. In den 70er Jahren existierte die praktisch nicht, jedenfalls nicht im Bewusstsein.

Ich wich zurück, immer weiter ins Wohnzimmer hinein und versuchte, der Bedrängung zu entkommen. Ah, ein großer, ovaler, massiver Tisch. Ich schlängelte mich um ihn herum, so dass er zwischen ihr und mir stand. Mein Blick fiel auf mehrere Regale, die sich an der Wand entlang zogen.

Das sind Fossilien“, sagte sie, „und hier auch Steinbeile – die habe ich alle in der Gegend gefunden.“ Ich nahm einen dieser schön geformten Steine in die Hand. Ich würde ihn benutzen, das wusste ich. „Behalten Sie ihn nur, wenn er Ihnen gefällt!“

Das Gespräch setzte sich fort, ebenso dieser seltsame Tanz, bei dem wir langsam um den Tisch kreisten. Sie redete ständig auf mich ein und versuchte, mir eindringlich in die Augen zu schauen. Der Raum war nicht sehr groß. Ich nahm unauffällig das Fenster in Augenschein. Wir befanden uns im Erdgeschoss. Zur Not hätte ich es aufreißen und hinausspringen können.

Diese spannungsgeladene Situation dauerte bestimmt eine Viertelstunde, als die Rettung nahte.

Die Tür öffnete sich, und das Dienstmädchen des Haus erschien, um ihre señora etwas zu fragen.

Ich schoss wir ein Pfeil aus der Tür, rief ein kurzes „Gracias“ nach drinnen in den Raum und rannte nach Hause.

Der Schulpräsident war gerade da, als ich aufgelöst erschien. Ich berichtete, was mir widerfahren war. Sein Entsetzen war groß.

Um Himmels Willen, ja, wusstest du denn nicht...? Das ist die Tochter des Besitzers. Sie ist erst vor kurzem aus dem Gefängnis gekommen, hat da einige Zeit gesessen, weil sie eine Frau angefallen und der in die Brust gebissen hat! Die war schon immer gefährlich – wie konntest du nur dort hingehen!“

Nun, ja, mir hatte niemand etwas davon gesagt – das war kein Thema für die Ohren junger Frauen...


Zwei aufregende Vorfälle innerhalb kurzer Zeit.

Wenn ich heute zwischen beiden wählen könnte – ich würde den Puma nehmen.


(C) Copihue