"Florería Sonia" am Eingang des deutschen Friedhofs in La Unión / Südchile
"Florería Sonia" am Eingang des deutschen Friedhofs in La Unión / Südchile

Ein Friedhof, der Geschichte erzählt

 

Friedhöfe sind für mich keine „stummen Zeugen der Vergangenheit“, als die sie so gerne apostrophiert werden, sondern sehr beredt.

Die Anlage, Größe, die Art der Grabmale und Inschriften, die Ausschmückung verraten viel über die Mentalität der Menschen.

 

Der deutsche Friedhof in La Unión – ja, es gibt einen eigenen – ist der älteste des Ortes. Was heißt hier „alt“? Die Geschichte des Ortes ist jung, sie beginnt praktisch mit der Ansiedlung der Deutschen. Mein Freund und Gastgeber erzählt mir, dass seine Ur-Urgroßeltern sich den Weg von Corral (dem alten Hafen von Valdivia) nach La Unión mit der Machete durch den dichten Wald erkämpft haben. Nach 80 km waren sie dann in diesem Ort, der seinerzeit ( um 1860 herum) gerade eben 8 Einwohner aufwies.

Nun bin ich mit meiner Freundin, die eine direkte Nachfahrin des Apothekers Anwandter ist ( er kam 1852 mit der ersten Auswanderungswelle samt Familie, Vermögen und Klavier in Valdivia an und wurde Sprecher und Vermittler der Deutschen gegenüber der chilenischen Regierung) auf dem Friedhof und suche nach den Spuren, die die inzwischen vergangenen Generationen hier gelassen haben.

Von den ersten Ansiedlern finden sich so gut wie keine Grabstätten. Das ist nicht weiter verwunderlich: diese Menschen kämpften um ihre nackte Existenz; sie bauten sich Hütten, rodeten das Land und versuchten sich als Landwirte, obwohl viele keine Ahnung davon hatten. Sie waren z.T. als politisch Verfolgte aus Deutschland weggegangen – die Freiheitsbewegungen von 1848 waren gescheitert - und konnten in ihren erlernten Berufen nicht überleben. Es ging darum, den unwirtlichen Bedingungen und dem Heimweh zu trotzen. Da blieb keine Zeit und schon gar kein Geld für Grabsteine übrig. Nur vereinzelt finden sich kaum leserliche Inschriften auf fast verwitterten Steinen, die häufig unvollkommen sind: das Geburtsdatum fehlt und auch die Herkunft – das war sicher auch nicht wichtig für die Menschen in der damaligen Situation.

Moritz Günther, 1828 – 1874 und Marie Günther, 1842 -1929“ kann ich noch eben lesen, von Maria Luisa Walburg steht nur das Todesjahr – 1897 – da.

 

Erst die zweite Generation finde ich auf den Grabsteinen wieder. Sie ist meist zwischen 1855 und 1870 geboren. Die Inschriften sind Deutsch – aber die Namen werden schon in spanischsprachiger Manier eingemeißelt: „Katharina H. de Dippel“ bedeutet, dass diese Katharina mit einem Mann namens Dippel verheiratet war. Im Spanischen setzt man den Namen des Ehemannes nur mit einem „de“ an den eigenen Nachnamen an, und das nur inoffiziell.

Oder hier: „Catalina“ Knabe ist sicher als „Katharina“ geboren worden – genauso wie „Guillermo“ ein „Wilhelm“ war.

Hier sehe ich eine eheliche Verbindung zwischen einer Deutschen und einem Chilenen. Das ist ungewöhnlich für jene Zeit, man blieb unter sich – auch schon aus dem Grund, weil der Unterschied zwischen beiden Kulturen riesengroß war.

 

Der Tod kam häufig früh. Es finden sich vielfach Gräber, auf denen die Namen von mindestens zwei Ehefrauen stehen.

Alwine Heinsohn geb. Hensel ist nur 22 Jahre alt geworden. Du stehst vor dem Grab und sinnierst: Was mag die Ursache gewesen sein? Im Kindbett gestorben? Die Schwindsucht, die sehr verbreitet war? Oder ein Unfall, ein durchbrochener Blinddarm? Es ist erstaunlich, wie viele dieser Mensch ein relativ hohes Alter erreicht haben. Es war halt ein robuster Menschenschlag; kein anderer hätte hier überleben können.

 

Die dritte Generation war schon wohlhabend. Davon zeugen auch die Mausoleen, die sich die großen Familien errichtet haben. Es sind immer die gleichen Namen: Grob/Westermeier/Maetschl/Knabe/Daiber/Boettcher/Stolzenbach.

Die Nachnamen meines Freundes sind dann auch „Grob Stolzenbach“, seine Frau ist eine „Anwandter Boettcher“ – beide Deutsch-Chilenen der fünften Generation.

Meine Freundin bringt Blumen zum Grab ihrer Schwiegereltern. Praktischerweise kann sie welche am Eingang des deutschen Friedhofs kaufen. Da existiert nämlich seit dem Vortag eine „Florería“, eine Art Blumengeschäft. Die junge Besitzerin hat sich sicher zu Recht gedacht, dass die deutschstämmigen Chilenen am ehesten natürliche Blumen auf den Gräbern niederlegen werden.

Ansonsten gibt es viel künstliche Blumen zu sehen – erstaunlich in einem Land, in dem eine Unzahl von Blüten sich kaskadenartig über Wege und Stege ergießen.

Chabela ist fast genauso neugierig wie ich. „Ich gehe hierher, bringe Blumen. Ich habe mir aber nie die anderen Grabmäler angesehen.“ Wir linsen durch die Stäbe der Mausoleen, versuchen Inschriften zu entziffern und Verbindungen herzustellen.

 

Dann gibt es auch die ganz neuen Gräber, die auch mich traurig machen. Da liegt Hellmuth, der „verrückte Rechtsanwalt“, von dem immer noch so manche Anekdote erzählt wird. Neben ihm seine Frau Edith, die selbst im Badeanzug noch eine Perlenkette trug…

Wir sind nur Glieder einer Kette.

 

Ich schaue auf die siebte Generation, die fünfjährige Elisa, deren Augen vor Temperament fast aus dem Kopf fallen.

Die Blume, der Baum, die Nase!“

Sie geht natürlich in den Kindergarten der deutschen Schule ( die schon 1860 gegründet wurde) und lernt dort die Sprache, die ihre Großeltern noch sprechen, die sie an ihre Wurzeln erinnert, die aber für sie schon längst eine Fremdsprache sein wird.

 

Nachtrag

Es mag manchem verwunderlich erscheinen, dass sich – wie auf diesen Fotos besonders auf den Mausoleen – häufig zwei Nachnamen eingemeißelt finden.

Die Ursache ist die in allen spanischsprachigen Ländern übliche Namensgebung. Jede Person bekommt den Nachnamen des Vaters und an 2. Stelle den der Mutter. Für eine Frau ändert sich daran auch bei einer Heirat nichts. Sie kann den Nachnamen ihres Ehemannes mit einem „de“ an ihre eigenen anhängen, rechtlich verbindlich ist das aber nicht.

So heißt meine Freundin offiziell „Isabel María Anwandter Boettcher de Grob“. Das ist für den alltäglichen Gebrauch zu umständlich, und so wird sie im Prinzip „Señora Grob“ oder „Señora de Grob“ genannt.

Für mich ist sie nur „Chabela“, die Koseform für „Isabel“.