Der „Rápido“

 

Nach zwei Tagen Aufenthalt in Santiago ging es dann auf den definitiv letzten Teil der Reise: per Zug nach La Unión, die besagte südchilenische Kleinstadt, unser Domizil für die nächsten drei Jahre.

Wir sollten mit dem "rápido" fahren - Spitzengeschwindigkeit 80 kmh. Im Geiste korrigierte ich meine Vorstellung von dem, was ich bisher für "rapide" gehalten hatte. Oh, natürlich gäbe es auch noch einen Zug auf der Strecke Santiago - Concepción, der sei wesentlich schneller. Der "relámpago" (Blitz) würde sogar 90 kmh schaffen!

Von Santiago bis La Unión sind es rund 1000 km. 80 kmh, viele Aufenthalte, da kann man sich vorstellen, dass man um einen Schlafwagen nicht herumkommt, besonders dann, wenn der Zug abends um 6 Uhr abfährt. Halt, halt! Was heißt hier "fährt um 18 Uhr ab"! Natürlich gab es einen Fahrplan, in dem das drin stand. Es handelte sich aber eindeutig um eine Kann-Bestimmung, die äußerst großzügig angewendet wurde, eher eine freundliche Empfehlung.
Wenn man gegen halb sieben am Bahnhof eintrudelte, dann war
noch Zeit genug - wenn man schon eine Fahrkarte besaß. Eben mal so eine Fahrkarte im Bahnhof kaufen, das wäre nun wirklich zu einfach. Dafür gibt es eine spezielle Verkaufsstelle in der Innenstadt. Ah, ja.

Der Zug versetzte mich in helles Entzücken: es muss derselbe Zug gewesen sein, der für die Dreharbeiten zu "Manche mögen’s heiß" benutzt worden war. Wer den Film kennt, weiß, was ich meine: Marilyn Monroe als Sugar, und Jack Lemmon und Tony Curtis als Frauen verkleidet, fahren zu Prohibitionszeiten mit einer Damenkapelle von Chicago nach Florida. Wer ihn nicht kennt: die Innenausstattung bestand aus dunkelgrünem Plüsch und Mahagoni, die Metallteile waren aus Messing.
Zur Schlafenszeit wurden die Sitze so verstellt, dass es jeweils zwei Schlafkojen übereinander gab, rechts und links vom Gang, parallel zur Fahrtrichtung. Jede Koje hatte ihren Plüschvorhang. Die Reisenden in den oberen Kojen mussten auf einer kleinen Leiter nach oben klettern. Diese Leiter war verschiebbar, und wenn man nachts mal wohin musste, dann galt es erstmal, das Leiterchen ausfindig zu machen oder turnerische Qualitäten zu beweisen.
Die unteren Schlafkojen waren wesentlich teurer als die oberen, eben wegen des oben beschriebenen Problems. Als ich später einmal wieder per Zug nach Santiago musste, riet mir eine chilenische Freundin: "Kauf dir einen oberen Schlafplatz." Ich:" Das ist mir aber zu unbequem!" Sie:" Es sind bestimmt Herren im Abteil, und da man einer Dame nicht zumuten kann, auf einer Leiter herumzuklettern, wird man dir bestimmt eine untere Koje anbieten, und das Angebot kannst du unbesorgt annehmen." Genauso war’s.
Es gab auch separate Schlaf-Appartments mit eigener Waschgelegenheit. An der Wasch-Konsole war ein Messing-Schildchen angebracht: Leipzig 1918.

Diese Zugfahrten waren wundervoll. Man hatte kaum zwischen wildfremden Leuten Platz genommen, als man sich schon mitten in einer Unterhaltung befand. Die Gesprächsthemen wären in deutschen Zügen platterdings undenkbar: so wurde man mit größter Selbstverständlichkeit gefragt, wann man sein letztes übersinnliches Erlebnis gehabt hätte...
Jedenfalls konnte ich mich darüber unterhalten, als ich ausreichend Spanisch sprach. Bislang konnte ich eigentlich nur "muchas gracias" sagen.
Das sollte sich sehr bald und sehr umfassend ändern.
Aber das ist Thema einer anderen Geschichte...