Der Militärputsch - „Golpe del Estado“

11. September 1973

 

Viele von uns wissen genau wo sie waren und was sie taten, als sich Dinge ereigneten, die die ganze Welt bewegten.
Das Attentat auf Kennedy, John Lennons Tod, der Terroranschlag auf die Twin Towers - auch ein 11. September.

Für mich wird es immer der 11. September 1973 sein, der sich unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt hat.
Es war ein Wochentag. Meine Unterrichtsstunden fingen erst später an, also saß ich gemütlich beim Frühstück und überlegte, was wir am "dieciocho", am 18. September, dem Nationalfeiertag Chiles, unternehmen könnten.Ich schaute müßig auf die gegenüberliegende Schule und auf die Straße.
Der Vizepräsident der Deutschen Schule kam die Straße hoch gerannt. Der und laufen?? Ich wusste sofort, was passiert sein musste. Ein möglicher Militärputsch war schon häufig diskutiert worden. Ich stürzte aus dem Haus; Harriet, die Leiterin des Internats, kam dazu.
"In Santiago gibt es Straßenkämpfe, die Panzer rollen. Die Kinder! Wir müssen die Eltern alarmieren, damit die Kinder abgeholt werden!"
Wir rannten in die Schule.
Die Schüler, die im Ort wohnten, liefen sofort nach Hause. Den Internatsschülern wurde aufgetragen, in aller Eile die Sachen zu packen. Das Telefon lief heiß, die ersten besorgten Eltern, die weit draußen auf dem campo ihren fundo hatten, riefen an. Sie würden sich sofort auf den Weg machen.
Noch während wir versuchten, das ausbrechende Chaos zu ordnen, kam der erste Militär-Lkw: schwerbewaffnete Soldaten sprangen herunter. Sie hätten den Auftrag, die Internats-Kinder einzusammeln und zu den Eltern aufs Land zu bringen. Wir sahen uns an: So gut organisiert? Das konnten Chilenen nicht alleine geplant haben. Schnell wurde auch klar, dass die sehr jungen Soldaten nicht von hier waren und deshalb auch keine persönliche Bindungen an den Ort und die Menschen hatten. Eine Taktik, die vor Jahrhunderten schon die Inka angewandt hatten, wenn sie fremdes Land erobert hatten und es besetzten. Sehr gut organisiert.
Aufgeregte Eltern trafen ein, Kinder kletterten auf den Lkw und fuhren ab, Menschen strömten herbei, wir diskutierten heftig - als plötzlich Freund und Kollege Ernst August erschien. "Was ist hier denn los?" Er hatte Unterricht in einem selten benutzten Raum unterm Dach gehabt, und wir hatten ihn und seine Schüler komplett vergessen.

Die Schule und das Internat waren leer. Wir gingen ins Haus und schalteten den Fernseher ein.
Ich kann einfach nicht beschreiben, was ich fühlte, als ich die Straßenkämpfe und die schießenden Panzer im Zentrum von Santiago sah, das ich doch so gut kannte. Wir standen und starrten und schwiegen. Die Moneda - der Amtssitz von Salvador Allende - wurde beschossen.
Dann wurde der Bildschirm schwarz. Wir standen wie gelähmt, weil wir wussten, was das zu bedeuten hatte. Der Fernsehsender war also eingenommen worden.
Das Fernsehbild kam wieder. Ich hätte nicht geglaubt, dass mein Entsetzen noch größer hätte werden können, aber jetzt schüttelte es mich geradezu. Was wurde ausgestrahlt?
"Musik aus Studio B" mit Chris Howland, auf deutsch...
Ich habe nie wieder so etwas Makabres erlebt.

Die Radiosender schwiegen. Telefonieren ging auch nicht. Über unseren "Weltempfänger" hörten wir die Deutsche Welle, wo von dem Tod Allendes und dem Sieg der Putschisten berichtet wurde. Außerdem, so hieß es, sei keinem in Chile lebenden Bundesdeutschen etwas zugestoßen...
"Ach, nee" konnten wir nur höhnen. Bei uns in der Deutschen Schule hatte sich die Botschaft nicht gemeldet um zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Das wunderte uns auch nicht sehr. Die Unterstützung der bundesdeutschen Vertretung in den wirren Zeiten vor dem Putsch hatte darin bestanden, dass wir aufgefordert worden waren, für den Fall einer Internierung die Adressen der nächsten Angehörigen in Deutschland anzugeben.
Die nächsten drei Wochen waren wir vollkommen vom Rest der Welt abgeschnitten. Die Grenzen wurden geschlossen, Post nicht befördert, die Telefonleitungen unterbrochen. Wir konnten unseren Lieben daheim in keinster Weise mitteilen, dass es uns gut ging.
Von meiner Mutter und Schwester weiß ich, dass sie sich häufig ans Auswärtige Amt wandten, aber dort konnte man ihnen auch nichts über unser Wohlergehen sagen.

Am Nachmittag des 11. September fuhr Militär mit Lautsprecherwagen durch die Straßen: der "toque de queda", die Ausgangssperre, mit der wir die nächsten viereinhalb Jahre würden leben müssen, wurde ausgerufen. An dem Tag und für die nächste Zeit bedeutete das: ab vier Uhr nachmittags im Haus bleiben, noch nicht einmal in den Garten durfte man gehen. Die Sonne schien frühlingshaft, und wir schauten hinüber zu den Nachbarn, die ihrerseits am Fenster ihres Hauses standen.
Wären wir hinausgegangen, hätten wir sofortige Verhaftung, wenn nicht Schlimmeres riskiert.
Unser Schulpräsident, ein entschiedener Gegner Allendes, meinte nachdenklich.
"Ob uns das, was jetzt kommt, glücklich machen wird?"