Der Mayordomo

 

Ein gutes Restaurant in einem guten Hotel hat einen Mayordomo, einen Oberkellner.

Das „Crillón“ im Santiago de Chile der 70er Jahre war ein gutes Hotel, ein sehr gutes sogar. Es hatte zwar seine besten Tage schon etwas hinter sich, aber ich liebte den morbiden Charme dieses Fin-de-siècle Hauses mit seinen großzügigen, hohen Räumen, den schweren Brokatportieren und dem großen marmornen Bad.

Nachdem wir ein erstes Mal dort übernachtet hatten, galten wir schon als Stammkunden, was einen enormen Rabatt bedeutete – gleich 40% des üblichen Preises wurde uns erlassen. Kein Wunder also, dass dieses Hotel im Zentrum mein absolutes Lieblingshotel war, zumal der Service für eine junge Mitteleuropäerin, die sich bislang wenig in Hotels bewegt hatte, überwältigend schien.

Ich genoss nicht nur die freundliche Aufmerksamkeit des gesamten Personals, sondern auch das Frühstück mit den noch warmen, selbstgebackenen Croissants, das einem aufs Zimmer serviert wurde – selbstverständlich zusammen mit der aktuellen Ausgabe des „Mercurio“, der führenden Tageszeitung Chiles.

Im „Crillón“ fühlte ich mich wie zuhause, wenn ich aus vielerlei Gründen in Santiago zu tun hatte. Nie werde ich die Nacht vergessen, in der ich im Kreise der Angestellten saß, nachdem ich so gerade eben noch die letzte Maschine von Buenos Aires nach Santiago erwischt hatte, als nach dem Tod von Juan Domingo Perón ein Bürgerkrieg in Argentinien auszubrechen drohte und die Grenzen ab der besagten Nacht für drei Wochen gesperrt wurden. Im Hotel wusste man, dass ich in Buenos Aires war, man hatte natürlich von den Vorgängen in Argentinien gehört und gefürchtet, dass ich nicht mehr rechtzeitig aus dem Land herauskommen würde. Ich hatte es geschafft, kam morgens so gegen 3 Uhr im Hotel an, und fand mich sofort umringt. „Nehmen Sie Platz, Señora – einen Pisco Sour für die Señora! - und erzählen Sie uns, wie es Ihnen ergangen ist!“

Das „Crillón“ war ein Hort der Sicherheit für mich – wie sehr, sollte ich dann etwas später erfahren.

 

Warum ich wieder mal nach Santiago musste, weiß ich nicht mehr. Die Aufenthaltsgenehmigung für meine Familie und mich verlängern? Ein Haus für die kommenden zwei Jahre in Viña del Mar suchen? Irgendetwas Dringliches in der Deutschen Botschaft erledigen? Keine Ahnung.

Auf jeden Fall saß ich im Restaurant des Hotels und gönnte mir in aller Ruhe ein Mittagessen. Der Mayordomo kam an meinen Tisch und sah mich etwas zögernd an.

Señora, dahinten sitzt ein Herr – der da in dem Sessel – und er lässt Sie fragen, ob er Ihnen beim Essen Gesellschaft leisten darf.“

Ich schaute nur kurz hoch, sah ihn an und verdrehte die Augen.

Ich weiß,“ sagte der Mayordomo, „aber ich rate Ihnen zur Vorsicht. Das ist ein Coronel, ein wichtiger Mann, und der wird eine Absage nicht gerne akzeptieren. Aber ich werde auf Sie aufpassen.“

Die Alarmglocken in meinem Kopf klingelten. Das Pinochet-Regime hatte bereits mehrfach entscheidend in das Leben meiner Familie eingegriffen, und ich war immer auf der Hut – wohl wissend, dass mein Diplomatenstatus mir im Falle eines Falles kaum etwas nützen würde.

Ich blickte auf meinen Teller und dachte daran, dass ich eigentlich nur noch das Dessert essen musste und dann anschließend den Espresso nehmen würde. Kein zivilisierter Mensch dort würde ohne den abschließenden Kaffee ein Essen beenden. Ich nickte also dem Mayordomo zu, der sich nun seinerseits dem Herrn zuwandte und mein Einverständnis signalisierte.

Der Coronel erhob sich aus dem Sessel, schnippte mit den Fingern, und ein Page sprang und trug ihm seinen Trenchcoat hinterher, während der Herr auf mich zukam. Diese Arroganz – er hatte weder den Pagen noch seinen Mantel eines Blickes gewürdigt – sandte mir einen kalten Schauer den Rücken hinunter.

Er verbeugte sich vor mir, stellte sich vor und demonstrierte perfekte Manieren. Ein Herr aus den besten Kreisen. Der Coronel nahm an meinem Tisch Platz, der Mayordomo stellte sich hinter meinen Stuhl.

In galantestem und freundlichsten Ton begann dieser hochrangige Militär zu sprechen. Er erzählte mir alles – über mich und meine Familie, meinen Namen, den Wohnort, die Tätigkeit, die Namen meiner Kinder – alles. Dann fragte er mich, was mich denn heute nach Santiago geführt habe.

Mir war das Blut in den Kopf gestiegen, und ich hatte nur einen Gedanken: Wie komme ich aus dieser Situation nur heraus? Schon öfter hatte ich mich in kritischen Situationen befunden, in denen ich mich dann von meinem Instinkt leiten ließ. Ruhe bewahren, dachte ich nur, bloß die Ruhe bewahren.

 

Ich bestellte den Espresso, der Coronel ebenfalls. Die Konversation floss dahin, und ich hoffte, dass ich meine Nervosität verbergen konnte.

So, das Essen war beendet. Ich erhob mich. Der Herr sagte, dass das Essen selbstverständlich auf seine Kosten ginge. Mir war völlig klar, dass ich das Angebot akzeptieren musste – das entsprach einfach den höflichen Umgangsformen in diesem Land.

Der Mayordomo hatte die ganze Zeit über stocksteif hinter mir gestanden, stellte nun den Stuhl beiseite und wartete darauf, dass sich der Coronel von mir verabschiedete. Er begleitete mich zum Fahrstuhl und fuhr mit mir in den Stock des Hotels, in dem mein Zimmer lag.

Dieser Mann ist sehr gefährlich, Señora,“ sagte er, „ dem sind Sie aufgefallen. Und wenn er Interesse an Ihnen hat, dann sind sie ganz schnell von der Bildfläche verschwunden, und schlimmstenfalls tauchen Sie nie wieder auf. Ich flehe Sie an – verlassen Sie heute den ganzen Tag Ihr Zimmer nicht, egal, was Sie eigentlich heute vorhaben! Und reagieren Sie auf kein Klopfen an der Tür!“

Er machte mit mir einen Code aus und mahnte mich noch einmal eindringlich, auf keinen Fall mein Zimmer zu verlassen, wenn nicht klar sei, dass er vor der Tür stünde.

 

Ich hatte genug Erfahrung mit dem Militärregime um zu wissen, was gut für mich war.

Selbstverständlich blieb ich den ganzen Tag im Crillón.

Den Coronel habe ich nie wiedergesehen.

 

Im Jahre 2008 war ich wieder in Santiago. Ich ging im Zentrum spazieren und suchte die ganze Zeit nach diesem schönen, alten Hotel, um mich vielleicht noch einmal in der Lobby umzuschauen.

Aber es existierte nicht mehr.

 

(C) Copihue 2014