Der große Streik – der „paro“ I

 

Ich weiß nicht mehr, was uns bewogen hat, in den 14 Tagen Winterferien 1973 - also im Juli- über 2 000 km hoch in den Norden zu fahren. Es ist erstaunlich, wie schnell sich der Mensch Gegebenheiten anpassen kann - wir hatten uns derartig an die unsichere Lage gewöhnt, dass wir mit unseren beiden Kindern und einem vollbepackten Wagen aufbrachen, um nördlich von Antofagasta unser Zelt in unendlicher Einsamkeit an endlosen Stränden aufzuschlagen und dort, am Rande der Atacama, u.a. nach Pfeilspitzen zu suchen.
Eigentlich hätten wir gewarnt sein müssen: am 29. Juni hatte es schon einen Putschversuch des Militärs gegeben, der aber schnell niedergeschlagen war. Dieser Putsch hatte vormittags kurz nach elf Uhr begonnen - also, d a s können sich wirklich nur Chilenen ausgedacht haben. In Chile begann nämlich das öffentliche Leben nicht vor 10 Uhr...

Wir waren mit einem befreundeten Kollegenehepaar zusammen gefahren und verbrachten herrliche Tage am Meer vor der grandiosen Kulisse der Atacama.
Natürlich musste auch ab und zu eingekauft werden. Wir wechselten uns ab, um ins etwa 70 km entfernte Antofagasta zu fahren. Irgendwann war ich dran. Ich kaufte ein - auch eine Tageszeitung, die ich so zusammengefaltet auf den Beifahrersitz legte, dass nur der untere Teil zu sehen war. Beim Fahren schaute ich zur Seite und las, dass Paul Getty III. entführt worden war.
Mit der Nachricht kam ich auch wieder im Zeltlager an, der Einkauf wurde ausgepackt; es dauerte, bis es jemandem einfiel, die Zeitung ganz zu entfalten.
Der Schock traf uns unmittelbar: der "paro" der "camioneros" war ausgerufen worden, der Generalstreik der LKW-Besitzer.
Wir brachen unser Lager sofort ab.

Man muss wissen, dass durch dieses etwa 3.500 km lange Land (nur das Festland!) eine einzige große Straße von Norden nach Süden führte, die Panamericana. Die ist auch asphaltiert und in hervorragendem Zustand. Auf dieser Straße wurde alles transportiert, was der Mensch zum Leben brauchte - eine Zugverbindung existierte nur auf gut 1 000 km Länge und war nicht für den Warentransport geeignet.
Die camioneros waren die Könige der Straße, aber es waren sehr arme Könige. Meist war es so, daß ihr camión, der LKW, ihren einzigen Besitz darstellte, den sie auch selber fuhren.
Diese camiones waren derartig uralt, dass, wenn man einen hätte verkaufen wollen, den Fahrer gleich hätte mit verkaufen müssen... Kein anderer hätte das Biest zum Laufen gebracht.
Und nun - nachdem schon alles verstaatlicht worden war, was sich verstaatlichen ließ - sollte es auch die camioneros treffen. Ihre LKWs sollten sie dem Staat abgeben und dann praktisch Angestellte werden. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Im ganzen Land gab es zwei Orte, an welche die LKWs gebracht wurden. Dort machte man sie unbrauchbar. Ganz einfach Batterie oder Motor ausbauen oder Reifen abmontieren und verstecken - fertig. Eines dieser beiden camión-Lager wurde bei La Unión, unserem Wohnort, errichtet.

Wir saßen also oberhalb von Antofagsta und wussten, dass soeben die gesamte Versorgung des Landes zusammengebrochen war - unter anderem auch die mit Benzin. Und wir hatten einen Heimweg von mehr als 2 000 km vor uns.
Nichts wie weg hier. In Antofagsta hatten wir Glück, konnten noch volltanken und auch die mitgeführten Benzinkanister füllen ( mir wird schwach, wenn ich jetzt daran denke), die wir an Bord hatten.
Die Panamericana ist leer dort oben in der Wüste. Das Fahren war angenehm, unsere Anspannung wuchs aber stündlich. In dieser praktisch unbesiedelten Gegend gibt es kaum Tankstellen. Wir liefen jede an, trotz der gefüllten Kanister.
Es traf das ein, was wir gefürchtet hatten: das Benzin wurde sofort rationiert - " 5 litros, nada más, señora" - nur 5 Liter pro Tankfüllung, nicht mehr. Na, Mahlzeit, aber mir war schnell klar, dass ich den jeweiligen Tankwart kaum dazu würde bewegen können, eine kleine Zugabe zu gewähren - nicht im Angesicht der bis an die Zähne bewaffneten Soldaten. Je zwei von ihnen hatten sich rechts und links jeder Zapfsäule postiert, mit Maschinenpistole und Patronengürtel und allem, was sonst noch so dazugehörte.
Bei der Strecke, die wir zu bewältigen hatten, war klar, dass auch irgendwann der Inhalt unserer sorgsam verborgenen Kanister zu ende gehen würde. Nördlich von Santiago war es dann soweit: alle Kanister leer, vor uns eine Tankstelle, Soldaten, 5 Liter.
5 Liter waren zu wenig. Damit hätten wir es nicht einmal bis Santiago geschafft.
Ich also raus aus dem Auto, dem Tankwart eine lange Geschichte erzählt, in der meine unschuldigen Kinder eine tragende Rolle spielten. Der Tankwart blieb ungerührt: " 5 litros, señora". Ich zog alle Register - das fiel mir leicht, die Verzweiflung war echt - lächelte, verdrückte ein Tränchen, redete wie ein Wasserfall und beteuerte meine Liebe zu diesem schönen Land.
Das Benzin begann zu fließen. 1, 2, 3, 4 Liter... "Nur 5 Liter, señora, es tut mir so leid". Ich redete weiter. Der Tankwart hatte seine Position etwas verändert und zwar so, dass die Soldaten nun nicht mehr auf die Anzeige der Zapfsäule sehen konnten. 5 Liter, 6 Liter... Ich sah ihm in die Augen und fuhr fort zu bitten, zu erklären, zu lachen und zu weinen. "Nur 5 Liter, señora..." 7, 8, 9, 10 Liter... Ich redete weiter, er beteuerte mir, dass er mir wirklich nicht mehr als 5 Liter verkaufen könne, und das so lange, bis der Tank voll war.
Ich konnte ihm noch nicht einmal danken.

Mit dem vollen Tank erreichten wir ungehindert Santiago, wo Freunde uns mit Benzin aushalfen.
Aber noch hatten wir etwa 1 000 km vor uns, und jetzt begann der eigentliche Alptraum.