Der große Streik – der „paro“ II

 

Die Strecke Santiago - La Unión führte auf der Panamericana durch den am dichtesten besiedelten Teil Chiles und hatte damit auch das dichteste Verkehrsaufkommen - normalerweise.
In Santiago hatte man uns schon von den "Miguelitos" erzählt und gewarnt.
Die Regierung hatte natürlich versucht dem Streik zu begegnen und hatte eigene Lkw`s losgeschickt, um die Bevölkerung zu versorgen.
Da hatte ein Miguel einen sehr unschönen Gedanken, wie man erfolgreich ebendieses verhindern konnte. Die Streikenden warfen Krampen - verbogene Nägel, die "Miguelitos" - in großen Mengen auf die Straße. Sie bohrten sich in die Autoreifen und pff...
Leider unterschieden die Miguelitos nicht zwischen Regierungs- und Zivilfahrzeugen.
Schon kurz hinter Santiago begann es: rechts und links der Straße standen zusammengesackte Autos, auf der Straße glitzerte es von Metall.

Etliche von euch sind sicher schon eine längere Strecke mit übermüdeten Kindern in einem überfüllten Auto gefahren.
Aber zusätzlich 1 000 km lang am Volant festgekrallt sitzend, auf die Straße starrend und ständig Kommandos gebend wie "Weiter rechts, nein, wieder nach links, jetzt geradeaus - ich sehe nichts - oh, pass auf, da liegt eine ganze Ladung Miguelitos!", also, das geht an die Substanz.
Je weiter wir kamen, desto gespenstischer wurde die Szenerie: Autoleichen rechts und links, von den Besitzern verlassen. Sie mussten nicht befürchten, dass ihre Wagen gestohlen werden könnten.
Außer uns schien niemand mehr auf der Panamericana zu sein. Wir wollten nur noch Zuhause sein. Das war aber noch weit weg und schien nicht näher zu kommen, da wir - weil ständig den Miguelitos ausweichend - das Fahrtempo stark drosseln mußten.

So gut wie keine Rast. Wir fuhren die ganze Nacht über. In Temuco (etwa 350 km vor La Unión) rüttelte ich nachts um drei Uhr einen Tankwart wach. Er fuhr hoch und starrte mich an. Ich wollte Benzin. Er starrte mich und das Auto weiterhin an und fragte fassungslos: "Was haben sie für Reifen??" Seit einem halben Tag sei kein Auto mehr durchgekommen.
Richtig, unsere Reifen waren noch die schlauchlosen Originale. "Importiert?". Ja. Er konnte es nicht fassen - da aber eh keine Autos mehr kommen würden, sah er großzügig von der 5 l - Regelung ab. Zu dem Zeitpunkt waren sowieso keine Soldaten mehr da. Warum auch Zapfsäulen bewachen, wenn keine Autos mehr fahren.
Gottseidank, noch einmal vollgetankt - damit kamen wir bis nach Hause. Auf dieser Fahrt schien es mir, als wären wir die einzigen Lebewesen auf der Erde.
Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich glaube, wir sind mehr oder minder so, wie wir waren, ins Bett gesunken.
Am nächsten Morgen schauten wir aus dem Fenster. Da stand unser Auto. Alle vier Reifen waren platt.
Die Miguelitos hatten es zum Schluss dann doch noch geschafft.


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Der Streik verschärfte die sowieso schon katastrophale Versorgungslage.
Gut, Obst und Gemüse war reichlich da. Brot konnte auch selbst gebacken werden, da wir von irgendwoher einen Sack Mehl bekommen hatten. Es mussten nur die Mehlwürmer heraus gesiebt werden...
Jetzt war es das Benzin und das Heizöl, das ausblieb. Es war immerhin Winter und mitunter recht kühl, deshalb hatten wir alle einen Ölofen, aber kein "parafina".

Alles dies bedeutete aber lange noch nicht, dass darunter das gesellschaftliche Leben gelitten hätte. Es wurde weiterhin zu einer "kalten Platte" gebeten - eine Umschreibung für ein üppiges, kaltes Büffet. Wenn man genau hinsah, dann merkte man allerdings, dass es nur Geflügel in allen denkbaren Variationen war. An anderes Fleisch war nicht zu denken. Die ewigen Hähnchenschenkel konnte kein Mensch mehr sehen!
Aber "la vida social" spielte eine große Rolle, und so ging man hin, so fein gemacht wie möglich - mit einem kleinen Unterschied zur üblichen Aufmachung: am linken Arm baumelte das Abendtäschchen, die rechte Hand hielt den Ölkanister. Man konnte ja nie wissen...
Und so reihten sich an der Garderobe unter den Mänteln die "bidones", die Kanister aneinander.
Einmal passierte es tatsächlich, dass während des Essens das Telefon klingelte. "Es ist ein Tankwagen mit parafina durchgekommen, ich war der erste in der Schlange - kommt schnell, es gibt 20 l für jeden, solange der Vorrat reicht!"
Und die Herren sprangen auf und wir Damen rafften unsere langen Röcke und alle griffen zu den bidones - wisst ihr eigentlich, wie Ölkanister stinken? - und stürzten nach draußen in den Nieselregen, reihten uns brav ein, bekamen tatsächlich unsere 20 Liter, brachten die Kanister nach Hause, versuchten, uns einigermaßen die Hände zu waschen, sprühten uns gewaltig mit Parfüm ein und zurück ging es zur kalten Platte. Bizarr.

Benzin bekam man jetzt nur noch auf Bezugsschein, wenn man bei der Polizei die Verantwortlichen davon überzeugen konnten, dass man u n b e d i n g t nach Osorno müsse - schreckliche Zahnschmerzen, zum Beispiel. Osorno war 40 km entfernt, eine etwas größere Kleinstadt als La Unión, mit einem Markt, auf dem ab und zu noch etwas zu finden war, das man bei uns vergeblich suchte. Ich hatte häufig Zahnschmerzen in dieser Zeit... und auch Zeit genug, nach Osorno zu fahren. Das öffentliche Leben war zusammengebrochen, die Regierung verlängerte die Winterferien Woche um Woche.
Irgendwann wurde der Schulbetrieb halbherzig wieder aufgenommen. Wir besuchten das Lkw-Lager (es müssen so an die 500 Fahrzeuge gewesen sein) und sprachen mit den Besitzern, die bei ihren Vehikeln ausharrten und fragten uns beklommen, was da wohl kommen würde.

Was kam, war der 11. September 1973.