Der Dienstpass


Ein normaler, seinerzeit grüner Reisepass hätte es im Prinzip auch getan.

Da wir aber in offizieller Mission in ein politisch instabiles Chile ausreisten, bekamen wir einen Dienstpass ausgehändigt, der uns Diplomatenstatus verlieh.

Wenn ich schreibe „ausgehändigt“, dann ist das wörtlich zu verstehen.

Anfang 1973 wohnten wir in einem kleinen Dörfchen im Dunstkreis von Bad Münder, zwischen Deister und Süntel gelegen. Eines schönen Sonntagvormittags erklang die Glocke der Haustür. Zu unserer Verblüffung war es der Bürgermeister des Ortes, der die Pässe zugeschickt bekommen und ob der Bedeutung dieser Dokumente es als notwendig erachtet hatte, sie uns persönlich zu bringen. Er hatte den guten Anzug angezogen. Feierlich überreichte er uns die Ausweise; glänzend und noch druckfrisch riechend.

Der meinige liegt jetzt vor mir, reichlich zerfleddert und vergilbt, bis auf das Passbild. Dort ist eine unglaublich junge Ausgabe von mir zu sehen, die als „Ehefrau des Lehrers Sowieso“ beschrieben wird.

Auf der ersten Umschlagseite steht:

Alle Behörden und Dienststellen des In- und Auslandes werden hiermit ersucht, den Inhaber des Passes frei und ungehindert reisen zu lassen sowie ihm nötigenfalls Schutz und Beistand zu gewähren.“ Auswärtiges Amt. Stempel.

Oh, ja. Davon habe ich des öfteren ausgiebig Gebrauch machen können und zwar an Orten, an denen ich es nicht vermutet hätte.

Der Pass ist vollgestempelt, nur auf der allerletzten Seite wäre noch etwas Platz gewesen. Jedes Jahr musste ich allein wegen der Beantragung eines weiteren, ein Jahr gültigen Visums für meine ganze Familie nach Santiago reisen. Obwohl die chilenische Bürokratie die deutsche weit in den Schatten stellte und oft Anlass zu entweder Wutausbrüchen oder hysterischem Gelächter gab, kann ich mich nicht erinnern, jemals im „Ministerio de Relaciones Exteriores“, also im Außenministerium, Schwierigkeiten gehabt zu haben. Im Gegenteil: irgendwann, kurz vor einem Flug in die Heimat, stellten wir fest, dass unsere Aufenthaltsgenehmigung in zwei Tagen abgelaufen sein würde. Ich bin auf schnellstmöglichem Weg nach Santiago gerast und ich weiß bis heute nicht, wie ich es bewerkstelligt habe, aber zwei Stunden, nachdem ich das chilenische Außenministerium betreten hatte, fand sich das gültige Visum in meinem Pass. Da gehörte es auch hin, weil meine Töchter bei mir mit eingetragen waren. Uff! Die Genehmigung für ein weiteres Jahr in diesem herrlichen Land war gesichert.

Was habe ich dieses Papier geliebt! Und welche Ironie des Schicksals. Wir hatten den diplomatischen Sonderstatus bekommen, um im Notfall das sozialistisch regierte Land umgehend verlassen zu können. Dabei misstraute die Allende-Regierung dem Pass, und ich musste einen „Salvoconducto“ beantragen, eine besondere Ausreisegenehmigung, wenn ich bloß mal eben rüber nach Argentinien wollte.

Wirklich genützt hat mir der Pass in den Jahren der Militärdiktatur, in denen der Ausweis nicht nur voll anerkannt , sondern noch um eine laminierte Karte erweitert wurde, auf der ebenfalls das zu lesen ist, was ich oben vom Auswärtigen Amt zitiert habe – nur auf Spanisch eben. Aber wer bedient sich gerne der Großzügigkeiten einer Militärjunta? Diese Karte habe ich, glaube ich, nur ein einziges Mal eingesetzt.

Der Dienstpass erlaubte vieles. Ausreise? Einreise? Zollformalitäten?? Ich wedelte dann elegant mit dem dunkelroten Ausweis, und es hieß: „Pase Ud., señora.“ Bitte gehen Sie durch. Aber gerne doch!


Die größten Dienste erwies mir dies offizielle Dokument allerdings in Europa.

Bis heute noch ist mir der Aufstand peinlich, den ich am Frankfurter Flughafen mit einer harmlosen Bemerkung auslöste. Ich war zwei Wochen in Deutschland gewesen und trat nun den Heimweg nach Chile an, im Schlepptau meine beiden Mädchen und natürlich jede Menge Gepäck. Es geschah beim Einchecken. Ich wies meinen Pass vor und fragte, ob ich nicht auch einen Stempel der Bundesrepublik Deutschland bekommen könne – so viele andere Länder stünden schon darin, aber ein Stempel aus meinem Heimatland sei nicht dabei.

Der Angestellte warf einen Blick auf den Pass, erstarrte kurz, sprang auf und lief weg. Nanu? Die Schlange hinter mir wuchs an, und ich drehte mich ihr mit einem entschuldigenden Schulterzucken zu. Dann erschien der junge Mann wieder, hinter ihm im Laufschritt zwei Stewardessen.

Man bat mich vielfach um Entschuldigung, wenn man gleich gewusst hätte...

Mein Gott, ich war eine VIP!

Eine der Flugbegleiterinnen entriss mir mein Handgepäck, die zweite schnappte sich mein jüngstes Kind. Ich wurde in ein recht elegant eingerichtetes Zimmer geführt und bekam einen leichten Imbiss gereicht. Die Kinder durften im Nebenraum spielen. Ich muss nervös auf die Uhr geschaut haben.

Machen Sie sich keine Gedanken, wir bringen Sie rechtzeitig zur Maschine.“

So geschah es auch, und ich erinnere mich an ein paar neidvolle Augen, die dem Tross, bestehend aus den Stewardessen, den Kindern und mir, folgten, als ich zum Flugzeug geleitet wurde, ohne mich um so unwichtige Dinge wie irgendwelche Formalitäten kümmern zu brauchen.

Beim Durchblättern meines Passes finde ich den Stempel der Bundesrepublik. Er ist kaum sichtbar, verschwunden unter anderen Sichtvermerken, aber doch noch zu erahnen.


So richtig von meinem VIP-Status habe ich dann zwei Jahre später profitiert, und zwar auch in Europa.

Diesmal reiste ich mit meiner ältesten Tochter privat – der vorige Flug war ein vom deutschen Steuerzahler bezahlter Heimaturlaub gewesen; Dankeschön nochmal! - und deshalb hatte ich eine preiswertere Variante gewählt. Von Santiago aus ging es per Flug nach Madrid, und von dort mit dem damaligen „Eurail-Pass“ per Zug nach Hannover. Der Eurail-Pass kostete seinerzeit etwa einhundert D-Mark. Damit konnte ich vier Wochen lang jeden Zug in Europa kostenlos nutzen und in Deutschland sogar noch die Bahnbusse dazu; Voraussetzung war ein Wohnort außerhalb Europas. Ich brauchte noch nicht einmal eine Fahrkarte.

Mit dem Talgo ging es von Madrid bis nach Paris, allerdings nicht ohne Tücken. Bombenalarm im Baskenland zwang den Zug auf eine andere Route, und so erreichten wir zwei Paris schon mit etlicher Verspätung. Dort streikte die Metro. Na, toll.

Irgendwann saßen wir aber in einem Zug, der uns nach Köln bringen sollte, wo wir dann umsteigen würden, um nach Hannover zu gelangen.

Belgien. Der Zug fährt immer langsamer, schließlich hält er ganz. Es hatte ein Zugunglück vor uns gegeben. Der Zug musste zurück und einen großen Umweg nehmen. Ich hatte schon längst besorgt gerechnet: würden wir noch den Anschlusszug nach Hannover bekommen? Meine damals 7jährige Tochter hatte bislang alles brav mitgemacht, war aber wie ich übermüdet und begann, quengelig zu werden.

Ich fragte den Schaffner nach der voraussichtlichen Ankunft in Köln und die Aussicht auf eine Weiterfahrt. Es war abzusehen, dass wir erst spät in der Nacht in der Domstadt sein würden. Der Schaffner bat mich um meine Fahrkarte. Ich zog den Eurail-Pass hervor.

Sie haben also Ihren Wohnsitz nicht in Europa?“ Nein, natürlich nicht. „Darf ich Ihren Pass sehen?“ Bitte sehr.

Und da geschah es wieder. Der Schaffner rannte mit meinem Pass in der Hand aus dem Abteil hinaus und kam erst nach einiger Zeit wieder.

Machen Sie sich keine Sorgen; Sie bekommen auf jeden Fall noch den letzten Zug, der in dieser Nacht noch nach Hannover fährt.

Wir liefen in Köln ein. „Beeilen Sie sich! Der Zug nach Hannover wartet schon seit 20 Minuten auf Sie!“

Und, weiß Gott, Tochter Annette und ich sind gerannt. Ein Schaffner half uns in den Zug hinein, der daraufhin sofort abfuhr.

Den Eurail-Pass habe ich einmal in einem Bahnbus vorweisen können. Der Fahrer war begeistert. So etwas habe er noch nie in der Hand gehabt, aber auf einem Fortbildungslehrgang habe er einmal einen gesehen!

Tja, so ist das, wenn man eine VIP ist.

Von Kollegen weiß ich, dass sie während eines Heimaturlaubes mehrere hundert Kilometer weit fuhren, um sich ein Haus anzusehen, welches sie zu kaufen gedachten. Auf der Rückfahrt hielten sie in einem Gasthof und aßen. Eine gute Stunde später – noch auf der Autobahn – bemerkte die Frau des Kollegen, dass sie offensichtlich ihre Handtasche mit beiden Pässen darin im Gasthof hatte liegen lassen. Sie war verzweifelt, weil sie weder den Namen des Gasthofs behalten hatte noch den des Ortes, in dem sich dieser befand.

Sie also zur Autobahn-Polizei. Dort wurde man in dem Moment aktiv, als die Polizisten hörten, welcher Art die Pässe waren.

Machen Sie sich keine Sorgen“, hieß es auch da, „das kriegen wir schon raus. Dienstpässe rechtfertigen eine Polizeistafette. Fahren Sie nur weiter nach Bielefeld.“

Tatsächlich wurde ihnen am nächsten Tag von äußerst freundlichen Polizisten die vermisste Handtasche mit Inhalt überreicht.


Auf der letzten Seite meines Passes steht:

Dieser Paß ist Eigentum der ausstellenden Behörde. Er ist nach Erledigung des Dienstauftrages, für den er ausgestellt wurde, unverzüglich an diese zurückzugeben.“

Unglücklicherweise verlor ich ihn – mein Mann ebenfalls - als ich nach fünf Jahren wieder nach Deutschland zurückgekehrt war und musste dem Auswärtigen Amt diese Tatsache mit Bedauern mitteilen.

Welches Glück, als er sich dann irgendwann wieder anfand!

Den meisten anderen Kollegen, so habe ich mir sagen lassen, ging es genauso.


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