Das Gefängnis – Der Tag danach

 

Der "toque", wie von nun an die Ausgangssperre nur noch genannt wurde, endete um 6 Uhr morgens. Diese Regelung hatte Bestand, solange die Militärdiktatur andauerte.

Wir machten uns am Morgen auf den Weg; mein Mann fotografierte die camioneros, die ihr Lager abbrachen, indem sie ihre camiones wieder funktionsfähig machten.
Im Zentrum des Städtchens bildeten sich lange Schlangen vor den Geschäften - es war klar, dass innerhalb kürzester Zeit Schluss sein würde mit den Billigstpreisen. Militär überall. Wir standen auf der plaza, mein Mann fotografierte eine Menschenschlange aus gebührender Entfernung.

Ohne Vorwarnung schlugen die Soldaten zu.
Mein Mann wurde von meiner Seite gerissen und mit Gewehrkolbenhieben auf die Ladefläche eines Lkw geprügelt, auf dem schon andere Festgenommene verängstigt saßen. Ich konnte noch sehen, dass ihm ein entsichertes Maschinengewehr auf die Brust gedrückt wurde, dann fuhr der Lkw über das holprige Pflaster fort.
Das alles ging derartig schnell vor sich, dass ich nur wie gelähmt zuschauen konnte. Mein Verstand reagierte einfach nicht auf dieses Vorkommnis, an das ich nie im Leben gedacht hätte, das mir so vollkommen fremd war.Kein klarer Gedanke stellte sich ein, nur "Hoffentlich löst sich nicht aus Versehen ein Schuss."

Glücklicherweise hatte unser Schulpräsident von seinem Büro an der plaza alles mit angesehen. Er bewies Zivilcourage, als er mit dem Autoschlüssel in der Hand heraus gerannt kam, mich am Arm packte und ins Auto zog. "Sofort hinterher!"
Wir fuhren zum Gefängnis. Der Militärlaster war da, von meinem Mann und den anderen Verhafteten keine Spur. "Ich laufe durch die Büros; du bleibst hier im Gang sitzen."
Ich nickte nur wie betäubt; jetzt erst stiegen die entsetzlichsten Bilder in mir auf. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich dort gesessen habe.
Militär lief an mir vorbei, hin und her, meist junge Soldaten, dann andere Uniformträger.

Und dann geschah das Unglaubliche. Ich zögere fast, darüber zu schreiben, weil - wenn dies Fiktion wäre - sich jeder auch nur andeutungsweise seriöse Autor mehr als genieren würde, einen solchen "deus ex machina" einzubauen.
Eine schwarze Uniform mit vielen, zumeist silbernen Orden blieb vor mir stehen.
"Was machen S i e denn hier, Señora, por el amor de Diós?"
Mein Kopf ruckte hoch, die Stimme kannte ich, und ja, das Gesicht, das ich erst jetzt wahrnahm, auch. Ich schaute in die Augen des Sportlehrers unserer Schule. Wie...? Für Fragen mochte später Zeit sein - ich schilderte ihm sofort, was vorgefallen war.
"Espérese un momentito, Señora." Natürlich würde ich noch ein Momentchen warten...
Er wandte sich um, murmelte etwas vor sich hin, das wie "idiotas" klang und verschwand. Nach wirklich kurzer Zeit kehrte er mit meinem äußerst verstört wirkenden Mann zurück. Man habe ihn verhaftet, weil irgendjemand aus der Menge an der plaza gerufen habe, dass er ein "espía cubano" sei, ein kubanischer Spion.
Nun sah mein damaliger Mann einem eventuellen kubanischen Spion sowenig ähnlich, dass nicht mal Klein-Federico auf die Idee gekommen wäre: mein Mann ist etwa 1,83 groß, blond und blauäugig.
Aber der Befehl, innerhalb von 24 Stunden das Land zu verlassen, war schon geschrieben. Ein unschöner Fall von chilenischer Logik: er hatte durchaus begreiflich machen können, dass er ein Deutscher mit noch recht dürftigen Spanischkenntnissen war. Damit war der Anklagepunkt vom Tisch, und man hätte ihn sofort freilassen müssen. Aber nein, dann hätte das Militär ja einen Fehler eingestehen müssen und das Gesicht verloren - ausgeschlossen.
Wir erfuhren, dass der "Sportlehrer" nur ein Undercover-Job gewesen war. "Unser" Mann entpuppte sich als ranghöchster Geheimdienstler der Region. Er zerriss die Ausweisung, wir waren entlassen.

Mein Mann hat Zeit seines Aufenthaltes keine Probleme mit der Polizei gehabt, bei Kontrollen oder wenn er wortreich erklären musste, warum er die Sperrzeiten des "toque" überschritten hätte, bei Rot über die Ampel gefahren war, etc. Er hat sich immer rausreden können.

Aber wann immer Militär auftauchte, wurde er angespannt und sagte:"Übernimm du das."