Abkürzungsverfahren


Fünf Jahre lang – oder, nach meinem Empfinden, fünf Jahre kurz – lebten wir so weit weg von Zuhause, obwohl wir als „Zuhause“ unbedingt unser Gastland betrachteten. Meine älteste Tochter, die die gesamte Grundschulzeit dort durchlief, ging sogar noch weiter. „Ich wäre für mein Heimatland gestorben!“ sagte sie mir einmal sehr viel später. Der unbekümmerte und hemmungslose chilenische Patriotismus hatte Früchte getragen. Das Antreten zum Fahnenappell und Absingen der (endlos langen) Nationalhymne an jedem Montagmorgen geht nicht spurlos an einer Kinderseele vorbei. Das führte übrigens zu skurrilen Situationen.

Wir beide auf Heimaturlaub in Deutschland. Die Großmutter holt uns am Flughafen in Bremen ab, und wir fahren mit dem Zug nach Buxtehude. Da muss das Kind der Oma doch soviel erzählen! Und so steht sie auf und singt im vollbesetzten Zugabteil „Puro Chile“, die eben schon erwähnte Nationalhymne, deren einzelne Strophen jeweils gefühlte fünf Minuten dauern. Die Mitreisenden sind begeistert. Die 7jährige setzt sich wieder hin. Da sie ein äußerst kommunikatives Kind ist ( bis heute!) wendet sie sich an den Herrn, neben dem sie sitzt.

Entschuldigen Sie bitte, sprechen Sie vielleicht zufällig Deutsch?“

Der Herr erholte sich von diesem Schlag nicht, bis er an einer Haltestation ausstieg, und die Reisenden im Abteil hatten eine sehr vergnügliche Zugfahrt.


Aber zurück zum Thema.

Zum Geburtstag dieser Tochter schickte der Opa ein Paket nach Chile, obwohl wir ihn herzlich gebeten hatten, das zu lassen. Wie sollte er denn auch wissen...

Auf allen importierten Waren lagen hohe Zölle, und das galt auch für Geschenkpakete. Glücklicherweise genossen wir Zollfreiheit bis zum Warenwert von 5000 Dollar. Das war fein. Allerdings bedeutete es einen enormen bürokratischen Aufwand, bis man das Dokument der Zollbefreiung für eine bestimmte Ware – oder eben dieses Paket – in der Hand hielt. Deutsche Zollunterlagen, Genehmigungen der Deutschen Botschaft, des chilenischen Außenministeriums sowie auch der Deutschen Schule, wobei einem der damalige Direktor, der ein eigenes, nicht sehr freundliches Kapitel meiner Erzählungen verdient hätte, auch noch jeden erdenklichen Stein in den Weg legte.

Insgesamt waren es 13 Papiere, mit denen ich eines Tages nach Valpo ( Kurzform für Valparaíso) in den Hafen und das Zollamt fuhr, um eben dieses Paket abzuholen.

Aber sicher doch, so hieß es, ich müsse nur in die Baracke schräg gegenüber gehen, wo die Dokumente abgestempelt würden. Das dauerte. Dann wurde ich weiter geschickt, weil es noch hier eine kleine Beglaubigung zu schreiben gab und dort noch ein Stempelchen draufgedrückt werden musste und da noch... Die ganze Prozedur dauerte etwa vier Stunden, und ich schwor mir : Nie wieder!

Nun, das Kind freute sich natürlich über die Geburtstagsgeschenke.

Jetzt gab es aber noch ein zweites Kind, das auch irgendwann Geburtstag hatte. Der Opa schickte wieder ein Paket. Die 13 Papiere waren irgendwann beschafft. Ich durfte wieder zum Zollamt.

Es gab nur einen kleinen Unterschied: Ein paar Tage vorher hatte ich unsere Schulsekretärin angerufen, die als Mitglied der deutsch-chilenischen Bevölkerungsschicht Gott und die Welt kannte, und sie um den Namen des Zollchefs sowie eine kurze Beschreibung seiner Person und sonstige Einzelheiten gebeten.

Dann brezelte ich mich auf und stöckelte, nein, rauschte ins Zollbüro hinein, präsentierte die Dokumente und bat um mein Paket.

Aber sicher doch, so hieß es, ich müsse nur in die Baracke schräg gegenüber...

Wie“, unterbrach ich den Angestellten, „nein, nein, wie mir der Señor Talytal ( steht für „Soundso“) auf dem Empfang neulich Abend bei den Soundsos gesagt hat, steht mir die sofortige Auslieferung zu, da ja alle benötigten Papiere vorhanden sind.".

Oh, bitte, nehmen Sie Platz! Ein cafecito?“ Ich nickte gnädig, und während ich den Kaffee genoss, eilte man geschäftig hin und her.

10 Minuten später zog ich mit dem Paket unter dem Arm von dannen.

Schlechtes Gewissen? Aber nicht doch! Ich hatte ja nichts Unrechtes getan, hatte nur das Verfahren abgekürzt und jedem sein Gesicht gelassen. Wer meine Geschichte „Führerschein a la chilena“ gelesen hat, weiß, was ich meine.


Selbstverständlich war mir klar, dass die Zeit in diesem Land ein Ausnahmezustand für mich war. In Deutschland würde ich mich schon an die dort gültigen, vernünftigen und logischen Regeln halten müssen.

Wirklich?

Im Februar 1978 ging es endgültig zurück in unser Heimatland. Mein Mann wollte noch 14 Tage von Land zu Land hüpfen – ich durfte mit den beiden Mädchen schon mal vorausreisen, um vor Ort die Dinge zu regeln, wie z.B. die Verhandlungen mit dem Zoll, was unseren Container betraf, mich mit dem niedersächsischen Kultusministerium in Verbindung setzen, um herauszufinden, an welchem Schulort der Gatte denn ab dem 1. März tätig werden sollte, die Spedition veranlassen, die bei ihr vor fünf Jahren gelagerten Möbel wieder zurück zu transportieren, und vor allen Dingen sollte ich den von Chile aus bestellten VW-Bulli abholen, der in der Nähe von Bielefeld zu einem Reisebus umgebaut worden war.

Da erschien ich dann auch eines trüben Februartages, die Kinder an der Hand und offensichtlich schwanger. Die benötigten Papiere hatte ich alle dabei und bat darum, mir den Wagen zu übergeben.

Ah, ihr Bus! Sehen Sie, dahinten steht er, ist fertig und abholbereit.“ Das konnte ich auch sehen, grün mit weißem Hubdach.

Wir können Ihnen das Fahrzeug aber leider nicht mitgeben.“ Meine Gesichtszüge entgleisten.

Warum nicht? Mein Mann hat ihn bestellt, bezahlt ist er auch – hier habe ich doch die entsprechenden Unterlagen!“

Ja, schon – aber ein Fahrzeug darf nur an diejenige Person ausgeliefert werden, die sie auch bestellt hat. Und das ist in Ihrem Fall ihr Mann.“

Sollten fünf Jahre Leben in Chile umsonst gewesen sein? Nein, nein und nochmals nein! Mir fiel eine kleine Zeitungsnotiz ein, die ich am Morgen gelesen hatte - es ging um ein Feuer in Bogotá - und legte los.

Natürlich verstehe ich, dass Sie sich an ihre Vorschriften halten müssen – da könnte ja jeder kommen!"  Eifriges Nicken.

„Aber sehen Sie – mein Mann wäre normalerweise auch hier gewesen, aber... haben Sie gelesen, was in Bogotá passiert ist? Nein? Also, mein Mann befindet sich auf einer Rundreise in Südamerika und ist momentan in Kolumbien. Seine Flugtickets befanden sich im dortigen Büro der Lufthansa, aber stellen Sie sich vor, was passiert ist!“

Man hing an meinen Lippen.

Neulich Nacht ist dort ein Feuer ausgebrochen, alle Unterlagen wurden vernichtet, und nun sitzt mein Mann dort fest, bis er ein neues Ticket bekommt. Gestern noch hat er mich angerufen und gebeten, doch auf jeden Fall hierher zu kommen und den Wagen abzuholen! Er weiß noch nicht einmal, ob er rechtzeitig an seiner Dienststelle sein wird“

Ausrufe des Bedauerns.

Ja, wenn das so ist...“

Eine Viertelstunde später rollte ich mit dem Gefährt vom Hof.

Noch Fragen?



(C) Copihue 2015